Blick in eine andere Welt

Wolfgang Knüll Nahtoderfahrungen
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Eine Nahtoderfahrung kann am ehesten als die Schilderung eines ausserordentlichen Bewusstseinszustandes umschrieben werden. Mag der Körper extrem geschädigt sein, der Mensch erlebt sich als Gesamtheit vollkommen unversehrt und ins Geistwesenhafte überhöht. Umfragen in den USA, Australien und Deutschland deuten darauf hin, dass 4 bis 5 Prozent der Menschen eine solche oder ähnliche Erfahrung hatten. Das betrifft allein in Deutschland Millionen. 

Obwohl fast alle Religionen Versprechungen über das Jenseits machen, fällt es dem wissenschaftlich aufgeklärten Menschen schwer, an ein scheinbar reales Beispiel aus diesem Bereich zu glauben. Das trifft erst recht dann zu, wenn jemand angeblich vom Tod zurückgekehrt sein soll. Aber da fängt es schon an mit der Undeutlichkeit. Waren diese Menschen wirklich tot und auf der sogenannten anderen Seite? Nach dem geltenden Verständnis der Naturwissenschaft ist das nicht möglich. 

Entgegen dem gängigen Eindruck gibt uns die Wissenschaft keineswegs Antworten auf alles. Sie antwortet nur auf die Fragen, die sie stellt oder, genauer gesagt, auf die, die sie stellen kann. Dazu muss eine Frage im naturwissenschaftlichen Sinn formuliert sein und daraus die immer gleiche Antwort resultieren. Das entspricht der Vorgabe der klassischen wissenschaftlichen Theorie. Am besten sollte das mathematisch beweisfest ausgedrückt werden können, wie zum Beispiel in Einsteins berühmter Masse/Energie-Formel: E = mc2. Aber diese Bedingung können längst nicht alle Fragestellungen erfüllen. Man beweist daher immer nur das, wonach man fragt. …

Immer wieder wird in den Schilderungen der Nahtoderfahrenden darauf hingewiesen, wie unzulänglich der herkömmliche Wortschatz sei, um die Andersartigkeit und das Überwältigende des Erlebten angemessen zu beschreiben. Man benötige eigentlich eine ganz neue Sprache für diese andere Welt, so heisst es. Diese Sprachunmöglichkeit der Nahtoderfahrenden hob eine Ärztin schon 1974 in einem Brief an Eckart Wiesenhütter hervor: «Die Worte fehlen, um dies Erleben anderen auch nur annähernd verständlich zu machen.»

Man kann sich gut vorstellen, dass eine solche Erfahrung die betreffende Person dauerhaft und nachhaltig verändert und Einfluss auf die weitere Lebensführung hat. Die Erinnerung an das Ereignis verblasst auch nach langer Zeit nicht und kann noch Jahrzehnte später kongruent, ja fast wortwörtlich erzählt werden. Das bestätigt neuerlich, warum eine Nahtoderfahrung lebensbegleitend ist und eigentlich niemals endet. Da ist zu viel Unvorstellbares geschehen. …

Pim van Lommels völlig neuer Ansatz und sein Interesse an der Erforschung des Phänomens der Nahtoderfahrung hatte einen ganz persönlichen Grund. Ende der 1970er-Jahre hatte er seinen Dienst in einer holländischen Klinik angetreten, wo er unter anderem auf einer Intensivstation arbeitete. Dort kam es zu einem Schlüsselerlebnis, das ihn tief veränderte und seine wissenschaftliche Laufbahn bestimmen sollte. 

Ein Patient mit Herzstillstand konnte von ihm und dem Notfallteam durch Reanimation und Defibrillation ins Leben zurückgeholt werden, und alle waren hocherfreut über den guten Ausgang. Nur der Patient wirkte traurig und enttäuscht. Auf Nachfrage berichtete er van Lommel von einem beglückenden Erlebnis, das er im Zustand der Bewusstlosigkeit während seiner Reanimation gehabt haben wollte. Er erzählte von einem Flug durch eine Art Tunnel, von einem hellen Licht, von wunderbarer Musik in schöner Landschaft. Van Lommel war davon nachhaltig beeindruckt. Aber wie konnte das möglich sein? Erinnerung aus einer Zeit ohne Herztätigkeit und bei Bewusstlosigkeit? So etwas wurde von der geltenden Medizin rundweg ausgeschlossen und lag ausserhalb des naturwissenschaftlichen Horizonts. Deshalb konnte er das, was der Patient berichtete, einfach nicht vergessen. …

Ausserkörperliche Erfahrung

Wie der Begriff nahelegt, befinden sich die Erfahrenden in dieser Phase ausserhalb ihres Körpers. Auf einmal sind sie in der Lage, schwereloser zu fliegen als jeder Vogel. Sie empfinden sich als vollkommen unversehrt und können manchmal auch den unter sich liegenden eigenen Körper betrachten. Dabei treten häufig erhebliche Schwierigkeiten auf, die leblose Anatomie mit der wunderbaren ausserkörperlichen Geistwesenheit in Über- einstimmung zu bringen, die sie in diesem Moment erleben. Das Erkennen scheint nicht selbstverständlich, in der Art: «Ach, das da unten bin ja ich!» Oft braucht es dazu sogar ein Erkennungszeichen wie einen Ring am Finger oder Ähnliches.

Ganz konkret erzählen Betroffene, dass sie ihren materiellen Körper ohne vorherige Ankündigung verlassen, von der Empfindung her manchmal über den Kopf oder auf unerklärliche Weise. Erstaunt bemerken sie ihre Geistwesenheit und stellen ihren Tod fest, jedoch meist ohne Nöte oder Ängste zu empfinden. Vielmehr wird die Erkenntnis begleitet von übergrossem Glücks- und Freiheitsgefühl. Der Mensch fühlt sich als Gesamtperson vollkommen intakt, aber körperlos wie durchsichtig im Raum platziert. Sein Bewusstsein wirkt auf seltsame Weise losgelöst und wie erweitert. Meist befindet er sich oben unter der Decke, in einer Ecke des Raumes oder oberhalb der Personen, die den verlassenen oder narkotisierten Körper gerade bearbeiten. Falls Schmerzen vorhanden waren, wegen einer Krankheit oder etwa durch ein Unfallereignis, falls irgendwelche Behinderungen oder körperliche Defekte bestanden, so sind sie komplett verschwunden. Man empfindet sich vollkommener als jemals zuvor. Wenngleich die Neugier für das, was geschieht, sofort geweckt ist, richtet sich die Aufmerksamkeit doch eher zufällig auf die direkte Umgebung. Mit Erstaunen registrieren Betroffene, wie an ihrem offensichtlich leblosen Leib gerade eine Reanimation vorgenommen wird. Sie sehen die Bemühungen der Ärzte und Schwestern, das Aufbäumen des leblosen Körpers unter den Stromstössen des Defibrillators oder in einem Operationssaal den Operateur, wie er am eigenen offenen Herzen einen Eingriff vornimmt. Die Wahrnehmung ist über jedes bekannte irdische Mass hinaus ins Überreale verändert. Alles wird gestochen scharf gesehen und gehört, viel deutlicher als Augen oder Ohren es jemals vermögen, ohne irgendwelche Grenzen. Keine Materie hemmt die Wahrnehmung. Wände haben keine Bedeutung. Sie sind wie nicht vorhanden, durchlässig für die ins Unerklärliche expandierten Sinne. 

Die Nahtoderfahrenden erreichen in dieser Phase der Ausserkörperlichkeit sowohl die gesprochenen Worte als auch alle Gedanken der im Raum anwesenden Personen. Sogar die Gedankenvorgänge von Menschen, die sich weit ausserhalb des sichtbaren Umfeldes befinden, werden gehört, wenn die Aufmerksamkeit dahin gelenkt wird. Das Ganze geschieht wie durch Gedankenübertragung, Telepathie. Will man sich selbst äussern, so glaubt man tatsächlich zu sprechen, aber das ist für die realen Menschen in der Umgebung nicht hörbar. Ebenso wenig sind Berührungen möglich. Die ausgestreckte Hand, die den Arm des Operateurs ergreifen will, geht durch den menschlichen Körper einfach hindurch. …

Durch Wände hindurch in andere Etagen 

Ein 74 Jahre alter Mann – nennen wir ihn Chester¹ – erlitt mehrere Herzanfälle und musste wiederbelebt werden. Nach seiner Aufnahme auf die Intensivstation kam es noch drei weitere Male zu einem Herzstillstand.
Deshalb wurde ihm zur Vorsicht ein Defibrillator implantiert. Während einem seiner Herzstillstände hatte er eine Nahtoderfahrung. Dabei konnte er über eine grössere Distanz Gespräche zwischen seinen Angehörigen verfolgen und deren Gedanken in sich aufnehmen. Deutlich erinnerte er sich an ein Gespräch seiner Frau und seiner Tochter, die sich über einen ungewöhnlichen Baum mit roten Blättern unterhielten, der vom Fenster des Wartezimmers aus zu sehen war, in dem sie sich befanden. Sie überlegten sogar, ob sie ein paar Blätter mit nach Hause nehmen könnten, um den Namen des Baums herauszufinden, und amüsierten sich darüber, ob das wohl als Diebstahl zu werten wäre. 

Auf dem Boden des Wartezimmers spielte währenddessen sein Enkel und sprach dabei mit sich selbst über seinen neuen grünen Traktor, mit dem er gerade eine Mauer aus Bauklötzchen zerlegte. Die Tochter hatte das Spielzeug erst kurz zuvor im Geschenkshop des Krankenhauses gekauft. All das vermochte Chester klar und deutlich wahrzunehmen, obwohl das Wartezimmer auf einer ganz anderen Etage und weit entfernt von der Intensivstation lag. Unmöglich konnte er von dem Baum mit den roten Blättern wissen, geschweige denn ihn oder das Wartezimmer von seinem Intensivbett aus gesehen haben. Die Angehörigen bestätigten auf Nachfrage alle Angaben über das, was Chester gehört hatte. Bemerkenswerterweise blieb die Hypersensorik des Hörens nach der Entlassung noch ein paar Monate erhalten. …

Es gibt keine Grenzen 

Grenzen oder grössere Entfernungen spielen offenbar keine Rolle bei einer Nahtoderfahrung. Ein Inder in Amerika «sah« und »hörte» währenddessen ein Gespräch von Verwandten in der fernen Heimat, die sich gerade über ihn unterhielten. Die Übertragung funktionierte auch hier so, wie man sich Telepathie vorstellt. …

Sensorisches Phänomen – Taubheit 

«Dann kam ich an eine Grenze. Selbst mir mit meinen 10 Jahren musste das niemand erklären. Mir war einfach klar, dass ich nie wieder zurückkehren könnte, wenn ich diese Grenze überschritt. Aber einige meiner Vorfahren standen auf der anderen Seite und zogen meine Aufmerksamkeit auf sich, denn sie redeten in einer Art Telepathie miteinander. Ich bin von Geburt an völlig taub. Alle meine Angehörigen können ganz normal hören und verständigen sich mit mir immer in Gebärdensprache. Und nun konnte ich auf einmal mit 20 meiner Vorfahren durch eine Art Telepathie direkt kommunizieren. Das war eine überwältigende Erfahrung.»² Es gibt in diesem Fall natürlich keine Bestätigung von dritter Seite, denn wegen der Art der Erfahrung bei Taubheit des Nahtoderfahrenden hätte ein Zeuge zu Telepathie fähig sein müssen. Die Bemerkung über die «Grenze» jedoch darf als konkreter Nachweis für eine Nahtoderfahrung betrachtet werden, denn diese Feststellung kommt wiederholt in den Nahtodberichten vor und ist von grosser Bedeutung für die Rückkehr ins irdische Leben. …

Die Erfahrung C. G. Jungs³ 

In der Tat geht es hier um den berühmten Psychoanalytiker C. G. Jung, der 1944 einen Herzinfarkt erlitt und in der Folge seinen Körper verliess. Er hatte das Gefühl, als befände er sich hoch oben im Weltraum. Er sah unter sich die Erdkugel in herrlichem weissblauem Licht erstrahlen und dazwischen die Ozeane und die Kontinente silbern schimmernd in tiefem Blau. Seine Position war direkt über Ceylon und der indischen Halbinsel. An manchen Stellen erschien die Erde für ihn farbig oder dunkelgrün gefleckt wie oxidiertes Silber. Der schneebedeckte Himalaya war in Dunst und Wolken getaucht. Er erkannte am linken Rand eine grosse Ausdehnung. Das war die Wüste Arabiens, die rotgelb leuchtete. Dahinter erkannte er das Rote Meer und ganz oben am Rand, erfasste er im Blick noch einen kleinen Zipfel des Mittelmeers. Weiter nach Europa vermochte er nicht zu schauen. Und nun merkte er, dass er im Begriff war, die Erde zu verlassen. Er wird weiter zu einem lichterfüllten Raum geleitet, wo er Menschen erkennt, die ihm lieb und teuer sind, aber in diesem Moment muss er schon zurück. Da der Bericht von Jung genau mit dem übereinstimmt, was uns die Bilder aus dem Weltraum erst 30 Jahren später zeigen konnten, ist dieses Erlebnis besonders bemerkenswert und beweiskräftig. …

Das Lebenspanorama 

In dieser Phase der Nahtoderfahrung entfaltet sich das «Ich» in seiner Gesamtheit und es werden Ausschnitte oder ein Panorama des eigenen Lebens in allen Einzelheiten ausgebreitet. Menschen, die davon berichten, vergleichen das Erlebte mit einem ausführlichen Film oder einer Diashow ihres Lebens. Das ist jedoch ungenau, denn die Betroffenen erleben sich in diesem Schauspiel gleich zweifach: als Beobachter und Teilnehmende zugleich. Jede Handlung, jedes kleinste Detail, jedes jemals gesprochene Wort, jeder gedachte Gedanke ist unmittelbar verfügbar. Man wird geboren, lernt wieder laufen, geht zur Schule. Alle Abläufe ereignen sich wie gleichzeitig und doch chronologisch, sofort und überall rundherum und keineswegs beschleunigt, als ob Raum und Zeit nicht existierten. Wohin sich die Aufmerksamkeit wenden mag oder gerade gelenkt wird, schon erscheint das Gewesene in vollem Umfang und in jeder Einzelheit wie aus dem Nichts. Aber dieses Nichts ist prall gefüllt mit Information über das eigene Leben, über alle Vergangenheit und offenbar auch über die Zukunft und selbst über die fundamentalen Geheimnisse des Universums. 

Der Mensch erfährt, was gut oder böse während seiner Lebenszeit war, und er empfindet sowohl das in vollem Umfang mit, was er sich selbst mit seinen Entscheidungen angetan hat, als auch alle Regungen derer, die es direkt betraf. Ebenso verspürt er alle Auswirkungen, die das eigene
Verhalten darüber hinaus bei Dritten verursacht hat. Dabei zählen jede Tat, jedes Wort und jeder Gedanke. Es kann jedoch durchaus geschehen, dass von einem selbst negativ Erinnertes sich als positiv erweist und umgekehrt. 

Beim Betrachten schuldbeladener Lebenssequenzen leidet der Betroffene ebenso tief wie das Opfer seiner Taten und Worte, als hätte er sich die körperliche oder seelische Verletzung des anderen soeben selbst beigebracht. Die Leiden, die einem im Leben selbst zugefügt wurden, muss man in der Regel nicht noch einmal erdulden. Diese erlebt nur der Täter bei seiner Lebensrückschau in aller Schärfe. Man wird nicht zum zweiten Mal Opfer. Denn der Sinn des Lebenspanoramas besteht wohl darin, zu lernen, wie man sich als Mensch hätte richtig verhalten sollen. So sagen es uns die Nahtoderfahrenden. Dabei gilt als Massstab immer das Prinzip der Liebe, des liebevollen Handelns gegenüber jedermann. Nach Abwägung vieler ausführlicher Berichte der Nahtoderfahrenden wird es jedoch am Ende wohl versöhnlich. Vereinzelt liegen allerdings bestätigte Berichte von Straftätern vor, welche die ganze Bandbreite ihrer Vergehen aus der Sicht ihrer Opfer durchlebten. …

Die Begegnung mit Verstorbenen 

Die Begegnung mit geliebten Verstorbenen ist für die Nahtoderfahrenden in der Regel ein ungeheuer beglückendes Ereignis. Das kann zum Teil schon zu Beginn der Nahtoderfahrung geschehen, wo der oder die Verstorbene sich als Begleiter auf dem weiteren Weg dazugesellen. Vielfach sind es der verstorbene Bruder oder die verstorbene Schwester, ein verstorbenes Elternteil, zu früh gegangene Kinder oder Grosseltern bzw. besondere Menschen, die man sehr geliebt hat. Sie erscheinen oft wie Lichtgestalten in schönster Umgebung und die Nahtoderfahrenden werden gleichsam von ihnen willkommen geheissen. Sie werden an ihren Gesichtern, an ihrer Präsenz, an einer Art Schwingung, die nicht irdisch zu beschreiben ist, erkannt. Alle Kommunikation, alle Empfindung mit diesen Geistwesen vollzieht sich telepathisch, einzig durch Gedankenverbindungen. …

Die Expansion des Bewusstseins 

Die Betroffenen berichten von einem Zustand der Allwissenheit in einem Allraum, in dem es Antwort auf alle Fragen gibt. Beim Tunnel-/Lichtereignis wurde schon festgestellt, dass das Umfeld eventuell dunkel, aber keineswegs leer ist. Es ist angefüllt mit Wissen. Dieses Wissen über alles eröffnet sich dem Menschen in dieser Phase der Nahtoderfahrung. Auch hier funktioniert die Übermittlung von Sprache nonverbal mit Telepathie. Manchmal wird von einem Wissenshaus berichtet oder von einem Turm des Wissens, wo über jede nur denkbare Information verfügt werden kann.4 Man erfährt, dass alles auf Erden, vom Kleinsten bis in die Weiten des Alls, aufs Weiseste geordnet ist und alles einen Sinn hat. 

Angesichts der Zustände auf der Erde muss diese Botschaft nachhaltig verstören. Selbst wenn wir annehmen, dass sich die Menschen 99 Prozent aller Bosheiten selbst antun, gibt es doch mindestens ein Prozent – eine plötzliche schwere Krankheit oder ein Unglück –, dessen Sinn unbegreiflich erscheint. Nach der Rückkehr in den eigenen Körper geht das Allwissen weitestgehend verloren, aber die Erinnerung daran besteht fort. Vielleicht ist unser Gehirn für die gewaltige Menge an Daten einfach nicht geschaffen.  … 

Die Rückkehr in den Körper 

Der Eintritt in den Körper erfolgt ebenso abrupt wie der Austritt. Schlagartig werden Körperschwere oder Kältegefühl wie etwa nach einer OP mit Unterkühlung oder nach Beinahe-Ertrinken im Eiswasser empfunden. War man soeben noch federleicht und schmerzfrei, sind jetzt alle Schmerzen einer vorangegangenen Verletzung durch Unfall oder infolge einer bestehenden schweren Erkrankung wieder da. Gerade kam man aus himmlischer Umgebung und sieht sich nun mit der unveränderten irdischen Enge und der banalen Wirklichkeit konfrontiert. Die Erinnerung an die zurückliegende Erfahrung ist durchweg noch sehr lebhaft präsent und hat stärkste Empfindungen hinterlassen. Kurz gesagt: Je intensiver und schöner das Nahtoderlebnis war, desto komplizierter wird es, in die alte Welt zurückzufinden. Man denke an Pim van Lommels oder auch meine erste Begegnung mit Nahtoderfahrenden. Die von uns wiederbelebten Patienten waren nicht begeistert von ihrer Rückkehr ins Leben. 

Besonders unmittelbar nach der Rückkehr kommt es nicht selten aufgrund der Nachwirkungen der ungeheuren Schönheit des Erfahrenen zu lang andauernden depressiven Zuständen. Zudem fühlen sich die Menschen mit ihrem Erlebnis vollkommen isoliert, denn wem kann man davon erzählen? Nicht nur, dass einem wahrscheinlich niemand glauben wird, man muss darüber hinaus vielmehr damit rechnen, für verrückt gehalten zu werden oder man glaubt am Ende sogar selbst, dass etwas mit einem nicht stimmt. Dabei hat man doch alles real erlebt. So fühlen die Nahtoderfahrenden sich häufig fremd und fehl am Platz. Ihre echte, wahre Existenz liegt zu einem wesentlichen Teil in dieser anderen Welt. Das irdische Umfeld erscheint ihnen mitunter wie provisorisch. Erfüllt von dem Gefühl, in vollendet liebevoller Umgebung gewesen zu sein, verschieben sich die Wertvorstellungen zum Menschlichen hin. Das Streben nach den üblichen Lebenszielen – Erfolg, Geld und Besitz – ist nicht mehr stimmig. …

Blick in eine andere Welt 

Im Folgenden geht es um eine Art Sterbebettvision, die einer Nahtoderfahrung aber sehr ähnelt. An mehreren Tagen nacheinander war ich bei einer alten, sehr liebenswürdigen, gütigen Patientin in ihrem Haus zugegen. Ihr Mann war ein paar Jahre zuvor gestorben. Jetzt fühlte sie sich müde und einsam. Die Verschlimmerung einer auszehrenden Krankheit hatte ihr im letzten Jahr längst alle Kraft genommen. Sie wusste um ihren nahen Tod und schien eher erwartungsvoll. Mehrfach befragte sie mich über das kommende Ende. Dabei sprachen wir eingehend über Nahtoderfahrungen, sodass sie keine Angst vor dem Tod hatte. Nun wollte sie endgültig nicht mehr und der Natur ihren Lauf lassen – kein Krankenhaus, keine Medika- mente, keinen Sauerstoff mehr. Die anwesenden Kinder und Enkel achteten den Willen der Mutter und beschlossen, gemeinsam im Haus ihre Versorgung zu übernehmen. Für eventuelle medizinische Komplikationen wünschte sich die Patientin den Arzt dazu. Das war ich. Als alle um sie um ihr Krankenbett herum standen, nahm sie die Sauerstoffmaske ab und warf sie zur Seite. 

Irgendwann in diesen Tagen blickte sie auf einmal ziemlich starr geradeaus und sagte mit fester Stimme: «Ich krabbel da jetzt einfach durch.» Eine Tochter wusste durch einen Hospizkurs von so etwas wie einer Zwischenwelt um den Tod herum und fragte sie: «Ist das denn so eng?» Da antwortete sie fast freudig: «Nein, ganz weit!» Und in Gedanken an alle anwesenden Kinder und Enkel ergänzte sie mit Bedauern: «Am liebsten würde ich euch alle mitnehmen, aber das geht ja nicht.» Dann verschwand das Bild wohl. Kurz darauf schloss die alte Dame die Augen und verfiel in eine Art Dämmerschlaf. Immer war jemand nahe bei ihr, und könnte man Liebe sichtbar machen, das Haus hätte im Dunkeln geleuchtet. Nach ein paar Tagen verstarb sie friedlich, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, in einer Umgebung, die randvoll angefüllt war mit Liebe und Vertrauen. …

Anmerkungen

1 L. Bellg: Near Death in the ICU, Wisconsin 2016
2 Aus: P. van Lommel: Endloses Bewusstsein, S. 67
3 C.G. Jung: Erinnerungen, Träume und Gedanken, Zürich, Stuttgart 1962, S. 293ff.
4 J. Holden, S. Avramidis: Near-Death Experiences while Drowning, Denton 2015.

Gekürzt aus Wolfgang Knüll, Nahtoderfahrungen – Blick in eine andere Welt © Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 3. Auflage 2023 verlagsgruppe-patmos.de

Wolfgang Knüll
Nahtoderfahrungen

Wolfgang Knüll

Nahtoderfahrungen

Blick in eine andere Welt –
Aktuelle Antworten der Wissenschaft

Hardcover, 236 Seiten
ISBN 978-3-8436-1454-2
Patmos Verlag 2023,
3. Auflage 2023

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