Die Geokultur – Heilung für Mensch und Erde

Geomantie St. Brendan
Mont-Saint-Michael mit trockenem Bachbett: Kamen Fremde in den Landschaftsraum, so war dies im eigenen Bewusstseinsfeld spürbar. Foto: Lizzy Komen

In unserer Zeit erleben wir eine umfassende Ökonomisierung, Digitalisierung und Mechanisierung unseres Lebens. Wir haben unser Leben geistig und materiell sehr einseitig ausgerichtet und das wirkliche Verstehen der Natur, unserer Heimat und den lebendigen Bezug zu unserer Landschaft ausgeklammert. Der Kontakt zum eigenen Seelenraum, zur Seele von der Landschaft und Natur ist verlorengegangen. Geistige Prinzipien sind in die esoterisch-spirituelle Ecke abgewandert und im gesellschaftlichen Kontext nur noch fürs private Vergnügen zugelassen.

In der Geokultur versuchen wir, andere Wahrnehmungs- und Bewusstseinsräume wieder erlebbar und erfahrbar zu machen. In der europäischen Geomantie erleben wir die Landschaft als lebendigen Organismus mit eigenständigen Wirkkräften. 

Die Landschaft

Das Neckartal auf der Schwäbischen Alb hat eine ganz andere Ausstrahlung als die Rheinebene zwischen Schwarzwald und Vogesen. Durch das Elbsteingebirge weht ein anderer Geist als durch den Bayerischen Wald. Jede Landschaft hat ihre eigene Sprache, ihren eigenen Geist. Doch wie kann man diese Atmosphären differenziert wahrnehmen und beschreiben? Die Geomantie ist eine uralte Weisheitslehre, die sich mit den geistigen, seelischen, energetischen und geologischen Qualitäten einer Landschaft beschäftigt. Viele Hinweise auf diese Qualitäten sind in regionalen Besonderheiten und Traditionen verschlüsselt erhalten. In Sagen und Legenden werden die seelischen, erfahrbaren Kraftfelder einer Region bildhaft überliefert. Die zugrundeliegende Kraft nennen wir Anima Loci – die Seele der Landschaft. Die Anima Loci ist das Bewusstsein der jeweiligen Landschaft, das diese zeitlos überdauert und ihren Prozess des Werdens begleitet.

Die geistige Qualität einer Region hingegen wurde früher oft in der Symbolik von Trachten, Wappen, Stadtpatronen oder Herolden ausgedrückt. Sie fand ihren sichtbaren Ausdruck in der Mentalität der Ansässigen und in wichtigen, historischen oder immer wiederkehrenden Ereignissen. Man spricht vom Genius Loci – dem Geist der Landschaft. Er stellt die Identität einer Landschaft oder eines Ortes dar.

In alten Bauritualen – Grundsteinlegung, Richtfest, Begehung und Befriedung des Geländes – wurden diese Qualitäten einer Region in ein Haus, ein Dorf oder eine Stadt eingeladen. Die alten Schwarzwaldbauern gingen vor dem Bau eines Stalls oder Wohnhauses mit der Wünschelrute über das Grundstück und vollzogen die traditionellen Baurituale. Es war lange Zeit selbstverständlich, mit diesen Kräften in Verbindung zu stehen und sie als Unterstützung in das Leben einzubeziehen. Naturwesen wurden erlebt, befragt und in Entscheidungen einbezogen. Eine Vorstellung, die uns heute fremd erscheinen mag.

In jedem Landschaftsorganismus gibt es Konzentrationen dieser Kraftfelder. Dort stehen oft kleine Kapellen, besonders alte Bäume oder Quellen. Früher suchten die Menschen diese Orte auf, brachten Wünsche oder Fragen mit, feierten Rituale und Feste. Im tieferen Sinne ging es immer darum, sich wieder mit der Seele und dem Geist einer Landschaft zu verbinden – das Kraftfeld neu zu knüpfen, damit Mensch, Landschaft und Natur im Einklang miteinander wirken können.

St. Brendan Geomantie
Christin Lange im Eingangsportal der Clonfert Kathedrale in County Galway, Irland: Das Gebäude wurde um 1180 an Stelle einer früheren, vom Heiligen Brendan im 6. Jh. gegründeten Kirche errichtet.
Foto: Dagmar Strauß

Was möchte die Geokultur aufzeigen?

Um zu verstehen, warum wir heute eine Geokultur brauchen, lohnt sich ein weiterer Blick in unsere Vergangenheit. Wenn Archäologen heute über den Zweck früher Kultstätten rätseln und Historiker ihr Menschenbild aufgrund neuer Funde immer wieder revidieren müssen, wird meist übersehen, dass wir den frühen Menschen aus einer rein mentalen Bewusstseinsstruktur heraus nie ganz durchdringen werden.

Der Bewusstseinsforscher Jean Gebser beschreibt verschiedene Bewusstseinsphasen, ausgehend von der archaischen Phase über die magisch-mythische Phase bis hin zur heutigen mentalen Phase im Übergang zur integralen Bewusstseinsphase der Menschheit. Die frühen Kultstätten sind der magisch-mythischen Bewusstseinsphase zuzuordnen und basierten auf dem tiefen Bedürfnis, den paradiesischen Zustand, das All-Eins-Sein mit der Erde wiederherzustellen. Die damaligen Menschen, so Gebser, erwachten langsam aus einem archaischen, schlafenden Bewusstsein und wurden sich ihres Falls aus dem Paradies bewusst. Ein wichtiger Entwicklungsschritt unseres Menschseins.

So sind die frühesten Bauwerke nicht, wie lange Zeit angenommen, aus rein praktischer Notwendigkeit heraus, sondern aus einem spirituellen Bedürfnis heraus entstanden, den erlebten Verlust der Wahrnehmung des Ursprungs aufzuhalten. Siehe Göbekli Tepe, ein Bergheiligtum in der Türkei, 10.000 v. Chr.

Räume des Bewusstseins

Wir kennen auch heute noch diese Momente der Weite, der grösseren Ausdehnung in unserem raumzeitlichen Erleben, wenn wir zum Beispiel von einer Anhöhe aus über eine Landschaft blicken, zur Ruhe kommen oder meditieren. Der heutige Mensch braucht Hilfsmittel, um sich in diesem Sinne bewusst zu weiten, während dies für den magisch-mythischen Frühmenschen ein selbstverständlicher Zustand war. Kamen Fremde in den Landschaftsraum eines Stammes oder veränderte sich etwas in der umgebenden Natur, so war dies im eigenen Bewusstseinsfeld spürbar.

Dieser Bewusstseinsraum wurde mit der geistigen Entwicklung und der Herausbildung unserer Ich-Persönlichkeit immer enger. In der
geomantischen Beratung erleben wir oft die Auswirkungen: Häuser, die früher wie selbstverständlich als Teil des Landschaftsorganismus gebaut wurden, stehen heute isoliert und entwurzelt wie Fremdkörper in der Landschaft. Auch unser physischer Körper ist weniger durchdrungen, so dass Kraftlosigkeitserscheinungen auf physischer und psychischer Ebene keine Seltenheit mehr sind. Der Mensch hat auf dem Weg seiner Bewusstseinsentwicklung in unserem heutigen mentalen Zeitalter die Verbindung zu den natürlichen Kraftquellen seines Landschaftsraumes verloren und kann die Gaben dieser Erde gar nicht mehr wahrnehmen.

Geomantie
Christin Lange: Wahrnehmungsmöglichkeiten früherer Epochen erlernen und für das heutige Handeln relevant machen.
Foto: Hans-Jörg Müller

Die Idee der Geokultur basiert auf der wechselseitigen Verbundenheit von Erde, Ursprung und Mensch. Ihr Anliegen ist eine integrale Lebenskultur. Integral bedeutet, die alten Schätze – die Wahrnehmungsmöglichkeiten früherer Epochen – wieder zu erlernen und für unser Handeln im heutigen gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext relevant zu machen.

In diesem Sinne beruht die Geokultur auf drei Säulen, die sich gegenseitig bereichern und befruchten:

1. Geomantie – die Kultur unserer Erde

Die erste Säule, die Geomantie, umfasst das Wissen um das Kraftfeld Erde. Hier bietet die Geomantie altes und neues Wissen über die verschiedenen Welten des Erdraumes und Wege der Wahrnehmungsschulung zum Verständnis der lebendigen Natur. Ihre Themenfelder sind vielfältig: Leylinien- und Kraftortforschung, grossräumige Gittersysteme, Atempunkte der Landschaft, kosmische Wirkkräfte und ihre Integration in Landschaft und Sakralraum, geomantische Stadtstrukturen, harmonisches Wohnen und Arbeiten, energetische Erfolgsfaktoren von Standorten und vieles mehr.

2. Ontokultur – Eine neue Kultur des Ursprungs und der Mitte

In unserer rational oder verstandesmässig geprägten Kultur, in der das Ego, das persönliche Ich und die rein wissenschaftliche Herangehensweise im Vordergrund zu stehen scheinen, ist es eine grosse Herausforderung, eine Verbindung zum Grund des Seins herzustellen. Dies ist jedoch für eine tief verbundene und verwurzelte Kultur unerlässlich. Ein ursprüngliches Gefühl der Verbundenheit mit der Qualität des Seins oder des Ursprungs ist in jedem Menschen als Potenzial oder Anlage vorhanden.

Ontokultur (von: ontos = Sein, Ursprung) greift diese Qualität auf, da sie die Grundlage des menschlichen Lebens ist. Seit jeher wird berichtet, dass ganze Völker untergingen, wenn sie ihre heilige Mitte verloren haben. Die Mitte besitzt eine ausserordentliche spirituelle Ausstrahlungskraft und führt zugleich tief in das eigene Innere. Lange Zeit bildeten zum Beispiel Sakralbauten, Marktplätze und Dorflinden Zentrum und Orientierung.
Heute bleiben neu gestaltete Plätze und sakrale Räume leer und funktionieren meist nicht. Wie kann eine Mitte- und damit Ursprungskultur im modernen Gewand aussehen? Ganz konkret in der Planung und Gestaltung unserer Städte, Stadtteile, Dörfer, Parks, Gärten, Häuser? Hier kann ein neues ganzheitliches Bauen und Gestalten entwickelt werden, das in Verbindung mit den Urkräften wirkt.

  • Ontologie: die Lehre vom Seienden
  • Ontologie ist ein traditioneller Begriff aus der Philosophie und bezeichnet die Lehre vom Sein – genauer: von den Möglichkeiten und Bedingungen des Seins –, ist also eng verwandt mit der Erkenntnistheorie, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis beschäftigt. (Wiktionary)
  • Der Begriff Ontokultur wurde von Hans-Jörg Müller und Christin Lange geprägt. Er soll auf die tiefe Verbundenheit des Menschen und des Lebens mit einer Ursprungsqualität hinweisen. Letztlich beziehen sich alle Religionen auf einen divinen Seinsgrund, aus dem schöpferische Prozesse und Handlungen in das Leben fliessen. In Kunst und Architektur können wir die Hinwendung oder Abwendung des Menschen zu dieser Ursprungsqualität beobachten. Heute geht es wieder darum, diese Ursprungs-Seinsqualität bewusst in das Leben einzubeziehen. Eine Lebenskultur aus der Mitte.

3. Anthrokultur – Selbstentwicklung als Mensch – Heilsame Gemeinschaft leben – Reifes Menschsein

Anthropologen weisen seit Jahren darauf hin, dass die Wurzeln der ökologischen Krise letztlich in uns Menschen liegen. Nur wenn wir uns selbst menschlich wandeln, reifen und alte Wunden und Traumata aufarbeiten, ist ein tiefgreifender Wandel unserer Kultur möglich. Die Beschäftigung mit systemischen Lebenskonzepten, inneren Mustern und Transformationsprozessen führt zur Überwindung menschlicher Isolation und eines kollektiven Narzissmus. Nährende Lebensformen und Herzenskultur sind mögliche heilsame Formen dafür. Wenn wir als Menschen individuell und kollektiv Schritte der Bewusstwerdung gehen, unsere eigene Ich-Kraft entwickeln und darüber hinaus unserer Umwelt mitfühlend begegnen können, ist dies Heilungs- und Friedensarbeit.

Wir alle spüren tief in uns die Dringlichkeit einer Kultur, die nachhaltiges Leben in Verbundenheit mit unserer Erde fördert. Eine Geokultur – damit Mensch und Erde gemeinsam den nächsten Schritt gehen können.

Veranstaltungen mit Christin Lange

* 02.–04. Februar 2024, D-79104 Freiburg
Start der zweijährigen Geokultur-Ausbildung Earth Spirit – Dem Ruf folgen mit Christin Lange und Jochen Topp

* 23.–26. Mai 2024 Odilienberg/Elsass
Segensort St. Odile – Wahrnehmungsräume in Natur und Sakralbau

* 25.–30. Juni 2024, F-Auvergne
Geokulturelle Reise 2024 Im Land der schwarzen Madonnen 

almamundi.de

Praxis-Tipp von Christin Lange

Schulung der Hellhörigkeit: Sterne haben einen Klang. In der afrikanischen Tradition der Buschmänner wird dieser Klang mit dem Wort Tsau beschrieben. Wenn wir uns jeden Tag und jede Nacht fünf Minuten Zeit nehmen, um dem Gesang der Tag- und Nachtvögel zu lauschen, verfeinern wir unser Gehör. Der Gesang der Vögel kann in unser Herz eindringen. So entsteht eine innere Klangbewegung.
Zugleich verbinden wir uns mit den Vögeln. Vielleicht können wir Menschen eines Tages wieder den Klang der Sterne hören.

Autor

Christin Lange
D-79104 Freiburg
lange@almamundi.de
almamundi.de
Geomantin, Visionquestleiterin, Syst. psychologische Beraterin, Tänzerin in Ausdruckstanz, Ausbildung in Eurythmie, Gründerin und Leitung der alma mundi Akademie, Ausbildungsleiterin Geokultur.

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