In Raum und Zeit verortet
Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht Bezug. In unserem Lebensraum gibt es jedoch viele Einflüsse, die den Bezug zur Natur und damit zum Ganzen stören. Beispielsweise die Abhängigkeit von den digitalen Medien oder die moderne Ernährung führen zur Trennung und zum Verlust der persönlichen Verortung. Carlo Vagnières hat sich auf die Wirkungen von Räumen spezialisiert und fasst zusammen: «Bau, Architektur und Innenarchitektur sind in eine kolossale Entfremdung gerutscht, sie haben die grösstmögliche Beziehungslosigkeit geschaffen. Die Räume spiegeln unser Ausser-Bezug-Sein. Wir haben uns der Welt entfremdet.»
Nach Dr. David Bosshart und dem Gottlieb Duttweiler Institut befinden wir uns in einer Dekade des Zuhauses und es ist das grosse Thema: Wie schaffen wir wieder Bezug zu unserer Umgebung und zu uns selber? Die kurze Antwort lautet: Wir schaffen Bezug indem wir die ursprünglichen, natürlichen Materialien zu uns zurückholen. Sie gehören zu uns.
Wie aber können gebaute Räume heute beschaffen sein, die uns als Bewohner in unserem Bedürfnis nach Bezug nähren? Carlo Vagnières: «Neben der visuellen Denkweise, sind Räume für den Geruchssinn, den Geschmackssinn und den Tastsinn notwendig.»
Bezug zur Materie
Das Hauptthema in Carlo Vagnières Gestaltungen ist die Farbe. Seit dreissig Jahren stellt er unverändert Farben aus Kreide, Quark und Sumpfkalk her. Der Bezug zu diesen Stoffen besteht über die Geschichte. Kreide ist chemisch gesehen das Gleiche wie Kalk, aber Kreide ist viel jünger. Sie ist hundertfünfzig Millionen Jahre alt. Kreide kann Feuchtigkeit aufnehmen und wieder abgeben, wie wir das vom Leben kennen.
Im Gegensatz etwa zu Granit ist Kalk durch Lebewesen entstanden, Vagnières nennt das «lebensdurchglüht». Unzählige Lebewesen wie Wirbeltiere oder Muscheln haben sich seit hunderten Millionen Jahren tragende und schützende Strukturen mit Kalk geschaffen, wie auch wir Menschen selbst. Die Überreste dieser Lebewesen haben sich am Meeresgrund abgelagert. Durch Druck und Kontinentaldrift sind sie zu Kreide und Kalk geworden. Vagnières: «Diese Sedimentation ist Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn wir das in unsere Räume holen, haben wir diese tiefen Zeiträume, diese unglaubliche Menge an Werden und Vergehen um uns. Das gibt uns Zeit und Zeitraum an einen Ort. Wir erleben das als Ruhe und Weite. Diese Räume sind unglaublich ruhig.»
Das Kreidepulver bindet er mit Quark und etwas Sumpfkalk. Es entsteht ein starker, sehr harter Kaseinbinder. Eiweiss baut sich schnell auf und ab, es ist ein unmittelbares Werden und Vergehen. Eiweiss ist fast der grösstmögliche Gegensatz zu Kreide und Kalk. Vagnières: «Wir haben eine unglaublich tief schwingende Kreide und ein hochschwingendes Eiweiss. Zusammen ergibt sich eine harmonische Farbe, die kaum statische Ladung hat, hydrophile Eigenschaften besitzt und die Raumluft reinigt. Diese Farbe bringt einen höheren Grad an Harmonie in Räume, als uns das heute bekannt ist.» Wir selber bestehen aus Kalk und Eiweissen, entsprechend gehen wir mit diesen Stoffen in Resonanz und bauen Bezug auf. Die gemeinsame Schwingung ist vertraut, wir können sie verorten. Die Umgebung wird zu etwas Vertrautem, Natürlichem, Einfachem.
Anders verhält es sich, wenn wir uns in Räumen aufhalten, die aus petrochemischen Anstrichen und Bauteilen bestehen. Das Erdöl wurde über Weltmeere transportiert und hat dabei das maritime Leben gefährdet. Es wurden Kriege darum geführt und viel zu viel Geld dafür bezahlt, bis es schliesslich in molekulare Einzelteile gespalten und zu völlig neuen, der Evolution bisher unbekannten Stoffen komprimiert wurde.
Carlo Vagnières: «Es ist sehr schwierig, einen Bezug zu petrochemischen Materialien herzustellen und dementsprechend ist es schwierig, einen Bezug zu Räumen herzustellen, die damit ausgestattet und angestrichen sind. Wir entfremden uns damit unserer nächsten Umwelt und wir schaffen uns, der Natur und vielen Menschen, auch auf anderen Kontinenten, schwere Probleme.»
Im Licht der Natur
Es geht um Farben und damit um Licht und Schwingungen. Farben sind Licht in sehr hohen Frequenzen. Die Schwingungen im Frequenzbereich von 430–750 THz (Terahertz) lösen in unseren Augen einen Reiz auf den Farbrezeptoren der Netzhaut aus und übersetzen die Frequenz in das, was wir etwa Rot oder Grün nennen. Vergleichbar mit den Schallwellen einer bestimmten Frequenz, die in unseren Ohren den Reiz eines bestimmten Tones auslösen.
«Wir brauchen Farben und Licht von hoher Qualität.»
Carlo Vagnières
Für Carlo Vagnières ist der Künstler und Philosoph Hugo Kükelhaus (1900–1984) eine wichtige Referenz und noch heute von besonderer Relevanz. Kükelhaus wird als eine Grundsäule der Baubiologie bezeichnet. Er hat sich mit der sinnlichen Wahrnehmung von Farben, Licht und Oberflächen beschäftigt. Die Lichtreize stimulieren und regulieren über einen direkten Zugang vom Auge in die Hypophyse die Hormonproduktion im Körper und damit den Stoffwechsel. Bei einem Mangel an natürlichem Licht können wir matt, antriebslos und unkonzentriert werden. Vagnières: «Wir brauchen Farben und Licht von hoher Qualität. Nicht nur weil wir sie schön finden, sondern auch weil das für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit wichtig ist.» Im reich nuancierten Licht und den Farben der Natur werden Auge und Geist ruhig, der Mensch kann sich entspannen.
Dr. Jacob I. Liberman, Pionier auf den Gebieten Licht und Bewusstsein: «Licht spielt eine grössere Rolle als Vererbung, Umwelt und Ernährung.»
Unsere Sehnatur
Wie wirken nun Räume auf uns? Wie ist unsere Natur beschaffen? Mit dem Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn, Sehsinn und dem Hörsinn liefert uns die Wahrnehmung laufend eine Flut an Informationen zu unserer Umgebung. Die Überforderung bestimmter Sinne beeinträchtigt die gesamte Wahrnehmungsfähigkeit und das Wohlbefinden. Für den Sehsinn wie auch für den Hörsinn gibt es in unserer Erlebenswelt viel Anlass zur Überforderung.
Wenden wir uns dem Sehsinn zu. Carlo Vagnières: «Die Natur kennt weder homogene Flächen noch monochrome Farben. Je enger und isolierter das Schwingungsspektrum einer Farbe ist, desto aggressiver wird sie erlebt.» Monochrom bedeutet, die Farbe schwingt innerhalb eines ganz engen Spektrums, homogen bedeutet hier, eine Fläche ist überall gleichwertig.
Alle monochromen Flächen, auch weisse, entfremden unser Sehen. Sensorisch ist es unmöglich, eine monochrome Wand anzuschauen. Das Auge kann sich darin nirgends verorten. Der Effekt wird verstärkt, wenn die Fläche homogen ist, wie wir es heute in der Architektur fast überall antreffen. Vagnières: «Ein Stück weit vergewaltigen wir unsere eigene Sehnatur. Wir ignorieren uns selbst mit den monochromen Farben und den homogenen Flächen.» Unser Sehorgan, unsere Wahrnehmung entstammt der Natur und ist nicht auf solche Reize ausgelegt. In der Natur gibt es keine monochromen Farben und keine homogenen Flächen.
Reizinflation Signalfarben
Im letzten Jahrhundert wurden mit den monochromen Farben Signalfarben geschaffen. Beispielsweise Signalrot für das Feuerwehrauto und für die Fahrverbotstafel. Als Signalfarben machen die monochromen Farben Sinn: Das Feuerwehrauto und die Fahrverbotstafel müssen sofort gesehen werden, diese zu übersehen, kann gefährlich werden. Wenn wir uns jedoch im alltäglichen Leben mit den Reizen von monochromen Farben überfordern, wird unsere Wahrnehmung entsprechend verschoben und die rote Farbe am Feuerwehrauto funktioniert als Signalfarbe bald nicht mehr. Das Feuerwehrauto muss neonrot und weiss gestreift sein, damit es unser Wahrnehmungsniveau überreizt und auffällt.
Titanweiss und Elfenbeinschwarz
Das Pigment Titanweiss ist ein superfeines, heute bis in den Nanobereich abgeriebenes, weisses Pulver. Es wird, mit einem Bindemittel versetzt, zu einer Farbe, die auf Wände und Decken gestrichen wird. Ob in Flughäfen oder in privaten Gebäuden: Diese Farbe ist omnipräsent, Wände und Decken sind meistens titanweiss gestrichen. Carlo Vagnières: «Titanweiss ist das oberflächlichste Material, das es gibt, da sich das Auge an jedem Punkt dieser Oberfläche festmachen kann. Wir haben mit den titanweissen Flächen keinen Bezug mehr zu Material und zu Tiefe.»
«Die Natur kennt weder homogene Flächen noch monochrome Farben.»
Carlo Vagnières
Eine weisse Wand anzuschauen ist eine sensorische Unmöglichkeit, wenn wir davor stehen, kann es passieren, dass wir graue Schleier sehen. Bei einer Farbberatung in einem Spital schlug Vagnières Folgendes vor: Oberflächen in Stuckmarmor, einer alten Technik, bei der mit Sumpfkalk und feinsten Fraktionen von Marmormehlen die perfekte Marmoranmutung geschaffen wird. Es ergibt sich eine leicht transparente, changierende Oberfläche mit Tiefenwirkung. Die reinigungs- und pflegeverantwortliche Oberschwester winkte ab: «Das geht nicht. Wir haben gegen zehn Klagen pro Jahr von Leuten, die sagen, es war nicht sauber geputzt, wir haben uns infiziert.» Vagnières verwies auf die Wirkung der weissen Fläche. Wenn jemand nach einer Operation aufwacht, sieht er nichts anderes als diese weissen Flächen und liegt vielleicht noch mehrere Tage da und hat nichts anderes zu tun, als diese anzuschauen. Und was geschieht? Der unruhige Geist sucht in diesen weissen Flächen, bis er etwas findet. Vagnières: «Schauen Sie, wenn wir diesen Marmor machen, dann sieht das bewegt aus, da sieht dieser arme Patient etwas, während er mit der titanweissen Fläche einfach verloren ist.» Der Vorschlag wurde angenommen.
Das Gegenteil von Titanweiss ist Elfenbeinschwarz. Das Elfenbein von verstorbenen Elefanten wird verbrannt und das Pigment Elfenbeinschwarz fällt an. Vagnières: «Es ist das schwärzeste Pigment, das es gibt. Es entspricht der Natur von Schwarz. Um eine Fläche mit Elfenbeinschwarz streichen zu können, muss ich mit ungefähr zwanzig Anstrichen rechnen. Es entsteht ein Raum von Schwärze, wo sich das Auge an keinem Punkt mehr festmachen kann. Ein Künstler hat ein elfenbeinschwarzes Bild gemacht, vor diesem Gemälde sind die Leute reihenweise in Ohnmacht gefallen.
Rudolf Steiner sagte, es werde eine Zeit kommen, wo die Leute nur noch bunte Grauwerte sehen, aber keine Farben mehr. Wir stumpfen ab. Wir müssen wieder lernen, Farben in ihrer Feinheit, in ihrer Natürlichkeit zu verstehen und anzuwenden.»
Haus in der Stadt Zürich, Gestaltung durch Carlo Vagnières Feinraum.
Wände: Stucco di Pietra Jura, Sumpfkalkverputz aus dem Jura mit 0–0,5 mm Korn.
Boden: Douglasiendielen auf Blindboden.
Foto: Carlo Vagnières
Vagnières empfiehlt natürliche Farben anzuwenden. Natürliche Pigmente sind von sich aus polychrom. Zudem können die Farben auf eine Art und Weise verarbeitet werden, dass sie keine homogene, sondern eine abwechslungsreiche Oberfläche erzeugen. Das gelingt etwa mit den Techniken Stucco, Ölspachtel, mit Bürsten oder mit einem Spiel von Glanz und Matt in der Oberfläche.
Holz anschauen und Plastik anfassen
Entfremdung in hohem Masse bringen Kunststoffe, die den Anschein erwecken, ein natürliches Material wie Stein oder Holz zu sein. Die kunststoffbeschichteten Hölzer werden seit Mitte des letzten Jahrhunderts zunehmend und massenweise in Gebäuden verbaut. Das Auge sieht Holz, andere Sinne nehmen Kunststoff wahr. Carlo Vagnières: «Wenn Kinder diese Polyurethan- und Acryl-Beschichtungen an ihren Schultischen anfassen und dabei Holz anschauen, werden sie stumpfsinnig. Sie werden ausser Bezug gesetzt.»
Wir wünschen uns Transparenz und einen offenen Umgang mit Materialien in unserer Umgebung. Bei der Arbeit als Raumsensoriker empfiehlt Vagnières Lacke wegzuschleifen, damit die Leute wieder Holz sehen und berühren dürfen. Den öfter gehörten Einwand «nacktes Holz kann man nicht reinigen» entkräftet er mit dem Hinweis auf Schmierseife, womit sich auch rohe Hölzer reinigen lassen. Die sensorischen Vorteile liegen auf der Hand: «Ein geöltes, offenporiges Holz lässt einen molekularen Gasaustausch zwischen der berührenden Haut und dem Holz zu.»
Oberflächen, die frei von Kunststoffen sind, sind auch frei von statischen Ladungen. Die Ionisierung der Raumluft prägt das Wohlbefinden mit. Vagnières: «Die Ionisierung von negativ und positiv geladenen Ionen in einem Verhältnis von 60 zu 40 Prozent ist angenehm.» Beim Aufzug eines Gewitters kehrt sich dieses Verhältnis um. Er bezieht sich auf Messwerte: «In Räumen mit vielen Kunststoffoberflächen herrscht Vorgewitterklima.»
Böden für die Reinigung
Nach Vagnières würde Hugo Kükelhaus auch die Böden grob gestalten und so belassen, nicht abglätten. Kükelhaus hat bereits Mitte des 20. Jahrhunderts Zeichnungen zu Fussmassagen angefertigt. Die Fussreflexzonenmassage wurde in der europäischen Gesellschaft erst später zum Thema. Vagnières: «Ein glatter Boden ist kein Boden für unsere menschlichen Füsse, das ist ein Boden fürs Putzpersonal. Wollen wir den Reinigungsequippen die Gestaltung unserer Räume überlassen? Wo sind wir da gelandet?»
Carlo Vagnières erinnert an die Selbstverantwortung und schlägt vor, den Fehler bei sich selber zu suchen: «All zu schnell und all zu gern fragen wir: Warum machen uns Maler, Architekten und die Bauindustrie mit Ihren Produkten Räume, die ganz und gar nicht für unser Menschsein geschaffen sind? Dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir damit einverstanden sind oder waren, unsere eigene Natur hinter strahlendem Titanweiss auszublenden. Wir können sofort damit beginnen, uns mit der unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen und durch eine echte Gestaltung des Lebensraums unserer eigenen Natur den ihr zustehenden Raum schaffen.»
Bei den vielfältigen Einflüssen in Wohn- und Arbeitsräumen geht es hier auch um grobstoffliche, baubiologisch messbare Schadstoffe, die uns von Böden, Wänden und Decken über die Raumluft erreichen.
Unser Körper möchte durch drei halbdurchlässige Schichten geschützt sein: die Haut, die Kleidung und die Wohnung. Künstlich hergestellten Produkten fehlt diese halbdurchlässige Qualität oftmals. In der Summe wirken sich alle Einflüsse auf unser Leben aus.
Steine als Anzeiger
Bei einer Beratung von Carlo Vagnières werden intuitive Elemente eingesetzt. Das Erarbeiten der für den Kunden individuell passenden Raumgestaltung verläuft inspirativ und kaum linear. Der Kunde darf drei Steine blind ziehen. Wenn er dabei zögert, ist es klar, dass diese Technik bei dieser Person nicht funktioniert. Dann werden die Steine offen auf den Tisch gelegt und der Kunde kann wahrnehmen, welche Steine mit ihm in Resonanz gehen. Diese Steine dienen als Anzeiger für die Farb- und Materialfindung und die Qualität dieser Steine wird in die Raumbeschichtung übersetzt.
Praxis-Tipp von Carlo Vagnières
«Setz Dich in Deinem Wohnraum auf einen Stuhl und schau die Wohnung an. Nimm sie radiästhetisch wahr. Welche Bauteile stehen zu Dir in angenehmer Resonanz? In welchen Teilen kannst Du Dich nicht verorten? Welche Oberflächen unterstützen Dich, welche tun Dir nicht gut?
Lass Dich durch die Ergebnisse zu neuen
Gedanken anregen.»
Carlo Vagnières
CH-8914 Aeugst am Albis ZH
cv@carlovagnieres.ch
carlovagnieres.ch feinraum.ch
Comiczeichner, Flächenmaler, «Die Raumhülle betrifft die Menschen substanzieller als Kunstwerke.»
Es können Vorträge im Bereich der Raumsensorik und Raumoberflächen gebucht werden.
Autor
Redaktor Daniel Linder
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