Peter Roth und seine Klangphilosophie

Klanghaus Klangwelt Peter Roth
Peter Roth am Schwendisee In Wildhaus SG: Das Klanghaus steht auf der anderen Seite vom See. Foto: Daniel Linder

Peter Roth hat nach eigenen Angaben den schönsten Beruf: Komponist. Die Musik empfängt er von oben. Er braucht sie bloss aufzuschreiben und in Chor und in Orchester inkarnieren. Sein Bewusstsein für Tradition und Kultur ist ausgeprägt. Für ihn verbinden sich Inhalte der Naturwissenschaft und Spiritualität ganz natürlich mit der Alpkultur, zum Beispiel über die Naturtonreihe und handwerklich über die Schellen und das Hackbrett, einem Saiteninstrument, das ursprünglich aus Persien stammt und mit Klöppeln gespielt wird.

Peter Roth war als Kind mit seinem Grossvater im Toggenburg bei den Alpfahrten unterwegs und hatte pausenlos Hühnerhaut, die Klänge von Schellen und Juchzern haben ihn stark berührt. Mit 15 ereignete sich die Katastrophe. Der Arzt hat die Scheuermann-Krankheit diagnostiziert. Als Kunstturner musste Roth während einem Jahr im Bett liegen. 20 Jahre später kam die Einsicht: «Das Heilmittel war im Gift.» 

RR: Was war das Heilmittel?

Peter Roth: Bei mir war das Gift diese scheinbare Katastrophe, als 15-Jähriger ein Jahr in einer Gipsschale zu liegen. Dieses Gift war notwendig, damit aus mir ein Musiker wurde. In diesem Jahr begann ich mich über Radio und Bücher mit Musik auseinanderzusetzen. 

RR: Du hast Dir eine Klaviatur aus Karton gebaut, die lautlosen Töne gedrückt und so innerlich klingend die Intervalle gelernt.

Roth: Ich habe mir über dieses Kartonklavier die Musiktheorie erarbeitet.

RR: Diese Geschichte erinnert an die Homöopathie: Ähnliches mit Ähnlichem Heilen

Roth: Genau. Im Menschen ist der Sinn seines Lebens wie der Samen eines Baumes angelegt. Das muss sich im Laufe des Lebens entfalten. Es geht nicht von selbst. Es braucht Bedingungen, Wasser, Sonne, Licht. Ich glaube der Sinn unseres Lebens ist, im Laufe des Lebens den Sinn zu entdecken. Diese scheinbare Katastrophe, ein Jahr in einer Schale verbringen zu müssen, war der Anfang, den Sinn meines Lebens zu enthüllen. Ich bin immer noch dran. Das ist noch nicht abgeschlossen.

RR: In Deiner neuesten Komposition Missa Gaia – Ein grosser Gesang für Mutter Erde wird die Erde als intelligenter Organismus und fühlendes Wesen dargestellt. Ein vernetztes System, in das wir uns im Interesse von uns und dem Ganzen einbringen können. Was hat Dich zu diesem Werk ermuntert?

Peter Roth Klangwelt Toggenburg Geomantie
Peter Roth dirigiert sein *Requiem für die Lebenden* im Grossmünster Zürich: «Die Naturtönigkeit verbindet uns mit dem Universum.»
Foto: Video Still *Vom Zauberklang der Dinge*

Roth: Es war wieder eine Katastrophe, nämlich der Klimawandel und unser krankes Verhältnis zur Natur. Es ist auch da so: Wir können diesen Klimawandel als Katastrophe sehen, zum Beispiel weil es im Obertoggenburg mit Wintertourismus schwierig wird und es weltweit Überschwemmungen, Trockenheit und schmelzende Gletscher gibt. Vielleicht ist das auch das Gift und wird zum Heilmittel, wenn wir uns dem stellen und zu den wirklichen Ursachen vordringen. Die Ursache ist, dass wir uns die Erde unterworfen haben. Vielleicht weil es in der Bibel so steht: «Macht euch die Erde untertan». Jedenfalls haben wir uns alles verfüg- und planbar gemacht und das ist es eben nicht. Wir können nicht ein dauerndes Wirtschaftswachstum haben, einen dauernd grösseren Rohstoffverbrauch und immer mehr Stress für die einzelnen Menschen. Das bringt uns jetzt an eine Grenze. Entweder vollziehen wir einen Bewusstseinswandel oder der Homo sapiens war eines der vielen Projekte der Evolution. 

RR: Es gibt Wissenschaftler, die sagen, der Klimawandel sei ein evolutionäres, natürliches Ereignis. Sie belegen das etwa anhand von Verläufen der Magnetfeldstärke und der Temperaturkurve auf der Erde, die in den letzten fünftausend Jahren übereinstimmen.

Roth: Wir können sagen, dass es ein natürlicher Vorgang sei, der mit uns nichts zu tun habe. Dann spalten wir uns auch auf der Metaebene von der Natur ab und diese Situation wird uns umbringen, ohne dass wir dabei etwas gelernt haben. Das fände ich schade. Falls der Klimawandel ein natürlicher Vorgang ist und wir dabei umkommen, haben wir es verpasst, vorher unser Verhältnis zur Natur zu verändern. Es ist ja nicht nur so, dass die Erde leidet, wir leiden mit. Wenn ich die Krebsgeschichten, Burnouts, Depressionen oder diesen Medikamentenwahnsinn anschaue, da gibt es viel zu lernen. Ich nehme die ökologische Situation als Möglichkeit wahr, zu lernen wie ich in diesem Jahr bettlägrig auf dem Rücken die Gnade hatte, das als Lernprozess, als bewusstseinsverändernden Prozess wahrzunehmen. Ich wurde von einem Jugendlichen zu einem Erwachsenen. Eigentlich war das ein unfreiwilliger Initiationsritus im Bett. Alte Kulturen machen Initiationsriten. Sie schicken ihre Jungen alleine auf den Berg, in den Dschungel, aufs Meer, in die Wüste. Dort sind Grenzerfahrungen möglich, die das Bewusstsein verändern. Unserem wirtschaftlichen Streben sind Grenzen gesetzt. Wenn wir jetzt nicht reagieren, verpassen wir in der Grenzerfahrung, die wir jetzt erleben, die Chance der Initiation in ein neues Bewusstsein. Häuptling Seattle hat gesagt: «Was ihr der Erde antut, das tut ihr euch selber an.» Dieser Konsumwahnsinn tut uns selber nicht gut, weil das kein Ende hat. Wir werden damit nie glücklich. Wir verpassen die Chance, das zu suchen, was uns besser tun würde, als das, was jetzt abläuft. 

RR: Im Klang liegt der Goldene Schnitt. Durch die Normierung des Klangsystems Ende des 17. Jahrhunderts ist diese Qualität reduziert worden. In deiner Arbeit spielt die Naturtönigkeit eine grosse Rolle. Was hat Dich dazu gebracht? 

Roth: Das Wohltemperierte Klavier von Bach sind zwei Bände mit Präludien und Fugen durch alle zwölf Tonarten. Das wohltemperierte Klavier als Instrument oder als Stimmung hat der deutsche Orgelbauer Andreas Werckmeister erfunden. In der Naturtönigkeit musizieren wir immer über dem gleichen Grundton, über einem sogenannten Bordunton. Das kann ein Didgeridoo, eine indische Tampura, eine Drehleier oder ein Dudelsack sein. Darüber entfaltet sich der Klang mit seinen Obertönen und das ist auch der Vorrat an Melodien und Tonleitern. Wenn wir den Grundton wechseln, entsteht ein Paralleluniversum von Obertönen. Die Erfindung von Werckmeister war, dass wir die Oktave in lauter gleiche Halbtöne einteilen. Dann entspricht es nicht mehr der natürlichen Stimmung, aber wir können auf einem Instrument alle zwölf Tonarten spielen. Seither haben wir zwei Tonsysteme im Abendland. In Afrika, China, Japan und Indien gibt es die Naturtönigkeit noch. Drei Fünftel der Menschen auf der Welt machen naturtönige Musik. Die klassische Tradition hat sich daneben aus der temperierten Stimmung entwickelt: Renaissance, dann Barock, die Klassik, die Romantik und die Moderne. Aber es gibt bei uns im Alpenraum noch Rückzugsgebiete von Naturtönigkeit. Das Alphorn zum Beispiel kann nur Naturtöne über der Grundstimmung spielen. In der Alpkultur, im Klang der Schellen, im Hackbrett, im Naturjodel und im Alpsegen ist diese Naturtönigkeit noch präsent, die uns mit natürlichen Gesetzen verbindet. Im Bereich des Visuellen ist das der Goldene Schnitt oder die Farbenskala. Eine Naturtonreihe von Tiefrot bis Violett entspricht auch den Chakren. Es ist interessant, dass wir uns über diese Naturtönigkeit mit dem natürlichen Kreislauf der Natur verbinden können. Dem sagt man heute Musikökologie oder Ökomusikologie. Das ist im temperierten System nicht möglich, weil dort die Tomaten alle gleich gross sind. Die Äpfel sind gleich gross und die Birnen sind gleich gross. Temperierte Stimmung ist eigentlich ein Züchtungserfolg. Mich hat während dem Studium fasziniert, dass das, was ich im Toggenburg und im Appenzellerland höre, das Gleiche ist, was ich in der Mongolei höre. Das war die Geburt der Klangwelt Toggenburg, diese Rückbesinnung auf die natürliche Stimmung. Das ist, wie wenn wir Tomaten oder Äpfel züchten, bis alle genau gleich gross sind und dann einer auf einen Apfelbaum mit verschieden grossen Äpfeln kommt. 

Klangwelt Toggenburg
Jodel Naturjodel
Berge ansingen: Jodelspaziergang mit Annelies Huser-Ammann und Christian Zehnder, Klangwelt Toggenburg.
Foto: Video Still Alpines Museum

RR: Die Welt funktioniert über Resonanzen. Wenn ich mich durch die Welt bewege, ist entscheidend, mit was ich wie in Resonanz gehe. Kann über Musik die Resonanzfähigkeit verfeinert werden?

Roth: Die Resonanz ist ein Beziehungsgeschehen. In der Akustik müssen beispielsweise zwei Stimmgabeln gleichgestimmt sein, damit dieses Beziehungsgeschehen funktioniert und die zweite Stimmgabel darf nicht blockiert sein. Ich glaube, wir sind in der Beziehung zur Natur blockiert. Wir müssen uns zu einer Stimmgabel entwickeln, die wieder im Natürlichen schwingt. Darum wird im Leitbild der Klangwelt Toggenburg der Resonanzbegriff immer wichtiger. 

Weisst Du, neben Musikethnologie waren bei mir im Studium Vorlesungen über Quantenmechanik an der ETH sehr wichtig, unter anderem mit Hans-Peter Dürr, Leiter am Max-Planck-Institut in Berlin. Die Quantenphysiker wurden alle zu Philosophen. Sie haben über Formeln so tief in die Materie hineingeschaut, bis sie gemerkt haben: Im tiefsten Grund ist alles Geist. Es gibt gar kein kleinstes Teilchen. In Genf suchen sie mit zweistelligen Milliardenbeträgen nach dem kleinsten Teilchen, aber es gibt keines. Im Grund ist Geist. Im Grund ist Schwingung. Alles entsteht aus Geist und Schwingung, alles ist Schwingung und im Fluss. 

In der Homöopathie kommunizieren wir beispielsweise über Schwingung in potenzierten, feinsten Bereichen. Auch im Gespräch mit anderen, mit einem Baum oder in der Alpkultur mit Tieren sind wir in Resonanz. Klang ist eine Kommunikationsmöglichkeit mit der Schöpfung. Wir sind mit allem über Schwingung in Verbindung, das fasziniert mich an diesem Resonanzbegriff. Musik und Rhythmus kann das in eine Form bringen, in der wir es konkret erleben. 

Nun besteht eine Möglichkeit, sich in Resonanz zu fühlen und die andere, sich von dieser Verbindung zu trennen. Dann bin ich wie eine blockierte Stimmgabel. Diese Abtrennung ist im Christentum der Urbegriff der Sünde. Du kennst vielleicht das Wort sintern. Eisenerz wird mit Hitze gesintert, man gewinnt so Eisen. Das ist eigentlich ein Trennungsvorgang. Sintern in Mittelhochdeutsch bedeutet trennen, sin ist Trennung und auch das Wort für Sünde. Wir begehen eine Sünde, wenn wir uns vom Heiligen abtrennen, das wir sind. Das hast Du heute auf dem Spaziergang auch erwähnt: Wir sind mit dem Heiligen in Kontakt. Wir sind vom Heiligen durchdrungen, wenn wir nicht blockiert sind, wie beim Stimmgabelbild.
Wenn wir planen und sagen «Nein, das ist nicht das, was ich vorgesehen habe, das muss anders sein», sind wir von Vorstellungen und Erwartungen blockiert und trennen uns ab. 

Ich glaube, über Klang und Rhythmus zu einer mitschwingenden Stimmgabel zu werden, ist eine wunderbare Möglichkeit, um in Beziehung zum Ganzen zu kommen, weil Klang hat nach oben keine Grenze und ist offen. Klang verbindet uns mit dem Transzendenten, der Wandlung. In jedem Ritual, von allen Religionen bis hin zu den Schamanen, kommt dort, wo die Verbindung vom Materiellen zum Geistigen, die Wandlung von der Immanenz zur Transzendenz angesagt ist, der Klang als Unterstützung zum Einsatz. 

Klangwelt Toggenburg

Klangweg Von der Alp Sellamatt über Iltios bis ins Oberdorf: Ein Familienerlebnis mit 26 Klanginstallationen, Grillstellen, Bergrestaurants und Spielplätzen in der Bergidylle des Toggenburgs. Mit den Bergbahnen erreichbar.

Klangkurse Musikpersönlichkeiten bieten ein breites Angebot an Kursen für den neugierigen Laien und den anspruchsvollen Musiker.

Klangschmiede Das Kunsthandwerk des Schmiedens von Schellen und anderen Klangkörpern wird gezeigt und vermittelt. 

Klangfestival Das Klangfestival und das Symposium bedienen im Zweijahresrhythmus verschiedene Aspekte und Strömungen der Naturtonmusik und ethnischer Kulturen.  

Klanghaus Wurde als begehbares Instrument konzipiert und befindet sich im Bau. Die Fertigstellung ist für Herbst 2024 geplant. Danach folgen Pilotprojekte, eine Versuchsphase und im Frühling 2025 die Einweihung.
klangwelt.swiss

RR: Du warst in Lesungen bei Hans-Peter Dürr! Hat er sich zur Naturtönigkeit geäussert?

Roth: In diesen Vorlesungen nicht, aber das, was er erzählt hat, hat mich in Verbindung gebracht mit dem, was ich da erlebe. 

Klangwelt Toggenburg Alpsegen
Älplerin Sonja Lieberherr-Schnyder ruft den Alpsegen: Möglichkeit um mit allen Ebenen des Seins über die Alltagswahrnehmung hinauszukommen.
Foto: Video Still *Vom Zauberklang der Dinge*

RR: Personen die den Alpsegen erlebt haben, berichten von tiefer Verbundenheit mit allem, von einem unglaublichen Miteinander von Mensch, Tier, Natur und Wesenheiten. Lässt sich das vergleichen?

Roth: In allen Kulturen, in denen es darum geht, das Transzendente zu erfahren, spielen zum Beispiel Drogen eine Rolle. Man könnte sagen, eine Erfahrung mit LSD, wie ich sie in den 70er Jahren gemacht habe, trägt uns ebenfalls in andere Dimensionen. Bei allen Drogen ist das Problem die Sucht. Du kannst die Droge nicht wie den Alpsegentrichter als Möglichkeit dazu benutzen, um über Deine Alltagswahrnehmung hinauszukommen. 

Eine Droge kann unterstützend wirken, aber es kann niemals Ersatz sein für eine reale Erfahrung. Im Grunde genommen geht es um die Ganzheitserfahrung. Wenn ein Mensch, der den Alpsegen hört, Hühnerhaut hat oder wenn Tränen fliessen, kommt darin eine Ganzheitserfahrung zum Ausdruck. Eben: die Überwindung dieser Abtrennung. Der Klang oder eine Droge überlisten uns, die Abtrennung loszulassen. Das kann auch durch eine Bachsuite, von Pablo Casals gespielt, geschehen oder durch eine Ballade von John Coltrane. Es muss nicht der Alpsegen sein. Letztlich geht es um die Erfahrung, Teil des Ganzen zu sein. Ich denke, das ist in dieser Situation, in der wir jetzt stecken, das Allerwichtigste, dass wir nicht nur in Büchern lesen, sondern in Momenten erfahren, dass wir mit dem Ganzen verbunden sind. Sexualität ist auch eine Möglichkeit. Wenn wir uns als Organismus oder als Organ eines Organismus fühlen, sind wir nicht mehr ein Wesen, das bei der Haut aufhört und vom Ganzen abgetrennt ist, sondern wir sind verbunden. Wir sind Organe des Organismus Erde, wie das Lynn Margulis beschreibt. Sie hat zusammen mit James Lovelock das Konzept der Gaia wieder in die Biologie eingebracht. Im Gaia-Konzept sind wir Organe von Mutter Erde. Sie spricht von einem symbiotischen System. Es gibt viele Wege, diese Ganzheitserfahrung zu machen und diese Erfahrung ist wichtig, damit wir uns nicht als abgetrennte Wesen fühlen. Nur als abgetrennte Wesen können wir unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Als Organ eines Organismus sind wir nicht interessiert, diesen Organismus umzubringen, sonst wären wir ein Krebsgeschwür. 

«Letztlich geht es um die Erfahrung, Teil des Ganzen zu sein.»
Peter Roth 

RR: Wir können die Menschheit zum Singen bringen. Wir sprechen oft nicht die gleiche Sprache, aber mit Musik funktioniert die Verbindung. 

Roth: Ich habe einen wunderbaren Satz gelesen: «Jede Sprache sagt dem Gleichen anders.» Das ist das Problem der Sprache: Sie objektiviert. Wenn ich dieses Glas Wein beschreibe, trenne ich mich vom Glas Wein ab, sonst könnte ich’s nicht beschreiben. Wenn ich damit verbunden bin,
kann ich es nicht beschreiben, weil ich nicht Subjekt bin und das ist das Objekt. Wenn jede Sprache dem Gleichen anders sagt und wir uns um die Wörter streiten, ist das die Geschichte vom Turmbau zu Babel. 

Klangwelt Toggenburg Chäserrugg Peter Roth
Peter Roth und der Chäserrugg 2261 m ü. M., östlichster der sieben Churfirsten und Wintersportgebiet mit Schneemangel: Was ist mein Credo?
Foto: Daniel Linder

RR: Die Verbundenheit, welche durch die Musik entstehen kann, wurde von Dir als Grund genannt, weshalb Du Musiker geworden bist. Durch diese Verbundenheit werden auch Texte so stark, wenn sie in Musik gekleidet sind.

Roth: Ich glaube, eine tiefe Sehnsucht in uns ist, verbunden zu sein. All die Konsumstrategien und Süchte: Eigentlich suchen wir wieder den Anschluss ans Ganze, trotzdem trennen wir uns immer mehr davon ab, weil Konsum Abfälle und Beschädigungen verursacht. Musik, Klang und Rhythmus sind eine reine Form, um in Verbindung zu kommen, ohne Abfälle zu verursachen. Weisst Du, beim Singen bringen wir uns selber in Schwingung. Wir sind nicht eine Stimmgabel, die angeschlagen wird. Das ist eigentlich ein unglaublicher Vorgang. Wir werden Instrument und verbinden uns dann über andere schwingende Wesen. 

RR: Ich stelle bei Dir eine starke Verbindung fest. Wie kommt es dazu? 

Roth: Die Klangwelt, so wie ich sie verstehe, bietet Möglichkeiten, diese Erfahrung zu machen. Ich weiss nicht, wie Du das in der Radiästhesie machst. Der Umgang mit dem Pendel braucht eine minimale Anleitung, um zu verstehen, wie ich über einen Pendel mit Energie in Kontakt kommen kann. Ich würde die Anleitung zum Singen analog zu dem verstehen, dass ich mich in Schwingung versetze und dann spüre, wo ich verbunden bin.

Dass wir die Klangwelt und das Klanghaus Toggenburg mit einem Kultur und Tourismusprojekt verbinden können, finde ich wunderbar. Wenn ich den Wintersport anschaue: Wie man sich da, wie Du gesagt hast, hochschleppen lässt und wieder runterfährt, erzeugt das keine Resonanz, sondern eigentlich Zerstörung. Vor allem jetzt, wo wir künstlich Schnee erzeugen. Hans-Peter Dürr hat ein Buch geschrieben: Warum es ums Ganze geht. Ich würde das noch ergänzen und sagen: Warum es um die Verbindung zum Ganzen geht. Da ist das Singen eine fantastische Möglichkeit. Es braucht nichts als Deinen eigenen Körper. Wie bei der Sexualität auch.

Klangwelt Toggenburg Klanghaus
Peter Roth vor der Baustelle Klanghaus im März 2023: «Wir begehen eine Sünde, wenn wir uns vom Heiligen abtrennen, das wir sind.»
Foto: Daniel Linder

RR: Der Sufi-Mystiker Rumi (1207–1273) schrieb: «Leere das Glas Deiner Wünsche und finde zu Deinem wahren Wesen.» Das wird in Deinem Werk Requiem für die Lebenden thematisiert. In der heutigen Zeit haben sich Ideologien so verdichtet, dass Vorstellungen, Wertungen und Urteile zwangsläufig zu Krieg führen. Wie können wir einen klaren Kopf behalten und bei den tiefgründigen Wahrheiten bleiben?

Roth: Wir finden das nur innen. Im Aussen gibt es keine Rezepte oder Anleitungen. In der Missa Gaia gibt es den Satz des Credo. Credo heisst wörtlich Ich glaube. Das war für die Komponisten immer eine grosse Herausforderung. Mein Credo: Was glaube ich und wie lautet der Text in diesem Teil der Messe? Lange hatten sie da keine grossen Probleme und haben einfach das Glaubensbekenntnis in Lateinisch komponiert und das Credo war gemacht. Aber jetzt, in einer aufgeklärten Zeit als reformierter Mensch muss ich mich fragen: Was ist mein Credo? Dabei kann ich kein Glaubensbekenntnis nachplappern. Ich bin auf einen Text der jüdischen Philosophin Hannah Arendt gestossen. Sie hat in Israel den Eichmann-Prozess begleitet und im Zusammenhang mit diesem Prozess einen Satz geschrieben, für den sie vor allem als Jüdin sehr angefeindet wurde. Sie schrieb: «Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. (…) Tief aber und radikal ist immer nur das Gute», was als Verteidigung des SS-Obersturmbannführer Eichmann ausgelegt wurde. Aber ich finde es einen tiefgründig weisen Satz, weil er zwischen extrem und radikal unterscheidet. Radix ist die Wurzel, daher kann das Böse niemals radikal erscheinen. Arendt sagte in einer Fortsetzung: «Das Böse ist das fehlgeleitete Gute.» Das Gute ist also tief in uns und radikal. Durch Umstände zeigt sich dieses Gute als das Böse und im Extremfall als extrem, aber niemals radikal. Eine Grundfrage, wie man in die Welt schaut: Sieht man im Grunde genommen in allem das Gute oder geht man davon aus, dass es etwas absolut Gutes und etwas absolut Schlechtes gibt. Gott und Teufel, hell und dunkel: die duale Weltsicht. Ich glaube, im Grunde ist das Gute das Helle, das Licht. Wir sind daraus gemacht, aber es gibt Phänomene wie den Schatten. Darum glaube ich, dass wir Antworten auf Deine Frage nach dem Verbleiben in den tiefgründigen Wahrheiten nur in uns selbst finden. Wenn wir tief genug suchen, stossen wir auf das Gute, auf den Sinn. Da schliesst sich der Kreis. Wir finden den Sinn unseres Lebens nur in uns selbst. 

«Die Differenz zwischen glücklich und unglücklich sein ist unsere Vorstellung.»
Peter Roth 

RR: Du hast bereits als Junge nach der Wurzel der Wurzel, nach dem nondualen Zustand gesucht und es als Deine Schaffensmotivation bezeichnet. Ist das nach 60-jähriger Auseinandersetzung Dein Fazit?

Roth: Ja. Wie im Rumi-Zitat schön gesagt: «Leere das Glas deiner Wünsche.» Ich glaube die Differenz zwischen glücklich und unglücklich sein ist unsere Vorstellung.

Klanghaus Toggenburg

1935 erstellten die Naturfreunde ein Blockhaus am Schwendisee. In den 70/80er-Jahren wurde es durch den Massivbau Seegüetli ersetzt. Mit den Naturfreunden kam eine Mentalität an den Ort, die eine helle, freundliche Energie unterstützte. 

Peter Roth bezeichnet die Begegnung mit dem Architekten Peter Zumthor am 08. Juli 2002 als Geburtsstunde des Klanghauses. Wenn Roth jemandem etwas von seiner Vision erzählte, gab es kaum Resonanz. Zumthor sagte: «Was Sie meinen, ist ein begehbares Instrument.»
2022 wurde dasSeegüetli abgebrochen. In einem Ritual am Schwendisee deuteten der Genius loci und der Landschaftsengel Obertoggenburg ihre Unterstützung zum Vorhaben Klanghaus an. Beim folgenden rituellen Spatenstich wurde das zudem vom Wasserelementarwesen für alle
Anwesenden sichtbar angedeutet. Der Bau wird feinstofflich begleitet.

Das Untergeschoss vom Klanghaus gleicht einem Boot. Es schwimmt im Moor des aufgestauten Seewassers. Ab dem Erdgeschoss wird traditionell mit Holz gebaut, das vor Ort gewachsen ist. Die Resonanzwände sind dem Hackbrett nachempfunden. Dabei wird das Wissen der Instrumentenbauer integriert: Die 125 Saiten des Hackbrettes erzeugen einen Druck von rund tausend Kilogramm und verlangen höchsten Standard mit Mondholz, zur rechten Zeit am rechten Ort geschlagen. Das Schindelholz für die Fassadenverkleidung wird von Hand gespalten, damit die Kapillaren nicht verletzt werden.

Das Klanghaus ist ein Körper, der durch seine gebogenen Wände Geräusche aus der Umgebung einsammelt und über Resonanzkammern mit Klängen aus den Innenräumen verbindet. Es ist kein Konzerthaus, sondern ein Ort der Stille: eine moderne Kathedrale.

RR: Der deutsche Filmemacher Sebastian Heinzel hat über Dich und Deine Arbeit eine bald 40-teilige Kurzfilmserie veröffentlicht, die weiter wächst: Vom Zauberklang der Dinge. Bei Deinen Vorträgen zeigst Du Ausschnitte daraus, spielst musikalische Stücke auf dem Hackbrett und erforschst Deine Themen in Resonanz mit dem Publikum. Wie läuft das ab?

Roth: Ich beginne mit einem Hackbrettstück, erzähle über meine Erfahrungen mit dem Klang und zeige einen Zauberklangfilm, zum Beispiel mit Annelies Huser, die erzählt, wie sie als Bäuerin zum Singen und zum Jodeln gekommen ist. Es folgt ein Dialogteil mit der Frage: Was bedeutet Stimme und Gesang für die Menschen, die anwesend sind. Vielleicht singen wir zusammen einen Naturjodel. Dann bringe ich den Begriff Resonanz ins Spiel. Wir fühlen uns verbunden, wenn wir singen, aber wir sind auf einer höheren Ebene verbunden. Nachher zeige ich vielleicht den Film über Wasserklangbilder, erzähle über die Arbeit von Alexander Lauterwasser und wie sich im Wasser, wenn wir es mit Klang bespielen, Grundmuster der Schöpfung zeigen. Ich erzähle, wie wir über Schwingung, Resonanz und Archetypen über Kulturen hinaus mit allem verbunden sind. Vielleicht folgt der Film mit den Steinböcken oder Musik aus einer anderen Kultur. Es geht bei den Vorträgen darum, über Sprache Einsichten zu vermitteln, um über die Gesamtheit von Musik, Filmbilder und den Erfahrungen mit dem eigenen Körper beim Singen, beim Erleben von Klang und Rhythmus berührt zu werden. Je nach Zielpublikum läuft es unterschiedlich ab. In einer Hospizgruppe zum Beispiel mache ich es anders als an einem Management Symposium oder in einer Sektion des Alpenclubs. Das ist fantastisch, Klang und Resonanz in immer anderen Zusammenhängen.
Bei einer Hospizgruppe geht es um den Tod. Innerhalb einer Sektion des Alpenclubs geht es um Natur, den Berg und bei den Managern um das In-Resonanz-Kommen mit der Organisationsentwicklung. 

RR: Neben Deinen Kompositionen wurde durch Dich die Klangwelt Toggenburg ins Leben gerufen. Sie besteht aus Klangkursen, dem Klangweg, der Klangschmiede, dem Klangfestival und dem sich im Bau befindenden Klanghaus, ein 13-Millionen-Gebäude, das nach der erfolgreichen Volksabstimmung vom Kanton St. Gallen und von privaten Geldgebern finanziert wird. Was bedeutet dieser Bau in deinem Lebenswerk?

Klanghaus Toggenburg Klangwelt
Klanghaus, Visualisierung Musikraum Schwendisee: Die Resonanzwände sind dem Hackbrett nachempfunden und aus Mondholz gebaut.
Foto: Nightnurse Images

Roth: Er ist das Geschenk zu meinem 80. Geburtstag am 24. September 2024. Lacht. Dass es in meinem 80. Lebensjahr fertig wird, ist eine schöne Resonanz. Eigentlich bedeutet es für mich die Materialisierung des geistigen Suchens. Das kondensiert sich in diesem Gebäude. Dabei geht es nicht um dieses Gebäude und sowieso nicht um mich, sondern darum, dass man in diesem Gebäude wieder die Erfahrung dieses Ganzen machen kann, aus dem sich dieses Haus konstelliert. Mein Grundanliegen ist, dass wir endlich lernen, dass wir nicht abgetrennt, sondern verbunden sind und dass es darum geht, Vertrauen zur Verbundenheit zu entwickeln, dass alles richtig ist, so wie es ist. Die radikalste Aussage im Ganzen. Die Aussage, dass die Menschen als Sünder geboren seien, war einfach ein Geschäftsmodell. Es ist ein Wahnsinn, den Menschen zu sagen, dass sie abgetrennt geboren werden. Schau mal ein neugeborenes Baby an! Sieht es abgetrennt vom Ganzen aus? Das ist völlig aufgelöst im Ganzen. Das kondensiert sich und irgendwann können oder müssen wir uns erinnern, dass wir tatsächlich immer noch verbunden sind.

RR: Du hinterlässt mit dem Klanghaus ein Manifest für die Verbundenheit.

Roth: Es ist ein Instrument, in dem uns bewusst werden kann, dass wir auch Instrument sind. Über die optimalen Bedingungen in diesem Raum hat man die Möglichkeit, sich zu verbinden und sich wieder als Teil des Ganzen zu fühlen. Ich sehe das Klanghaus nicht als abgetrennten Raum: Der See, die ganze Landschaft, die Tiere sind ein Teil dieser Erfahrung. Es geht nicht darum, sich in diesem Haus nach aussen hin abzugrenzen. Unsere Angebote werden zur Natur sehr durchlässig sein.

Klanghaus Toggenburg Klangwelt Klangweg
Klanghaus am Schwendisee, Visualisierung: Ein Organismus von Menschen, Tieren und Pflanzen mit dem Klanghaus als Kathedrale.
Foto: Nightnurse Images

RR: Kann im Klanghaus diese transzendente Erfahrung auch von Nichtmusikern gemacht werden? Von Personen, die keine aktive Berührung mit Musik haben, die nicht in einem Chor singen?

Roth: Fast eher von Nichtmusikern als von Musikern. Im Zen heisst es zum Anfängergeist: Je mehr, dass ich glaube, etwas zu wissen, desto weniger kann ich die Erfahrung davon machen. Wenn ich nichts weiss, dann ist das Potenzial der Erfahrung und die Chance, dass ich eine Erfahrung machen kann, am grössten. Je mehr ich darüber weiss, desto mehr bin ich wie die blockierte Stimmgabel. Das heisst, wir unterschätzen das Nichtwissen unglaublich. Dort, wo uns im Leben sogenannte Katastrophen begegnen oder wir nichts wissen, ist genau der Moment, in dem wir eine existenzielle Erfahrung machen können. In den Initiationsriten der alten Kulturen wird dieses Momentum sogar mit einem Ritual konstelliert, um in die eigene Angst hineinzugehen. Eine Grenzerfahrung. Dahinter lauert immer der Tod. Und diese Möglichkeit, dass mein Leben jetzt zu Ende geht, ist die letzte Chance, noch im Bewusstsein mit dem Ganzen in Kontakt zu kommen. Nachher werden wir sowieso wieder Teil des Ganzen. Das ist nicht das Problem. Aber diese Erfahrung zu machen, solange wir uns noch bewusst sind, das finde ich eine wunderbare Möglichkeit.

RR: Eine Einladung an alle, die sich erlauben, durch Klang eine bewusstseinserweiternde Erfahrung zu machen.

Roth: Genau. In unseren Naturjodelkursen sind so viele Menschen, die am Freitagabend kommen, dann zwei Töne singt o–a–o bis Sonntagnachmittag singen. Und dann erzählen sie Geschichten ihrer Traumas. Sie haben sich 30 oder 40 Jahre nicht mehr getraut zu singen, weil ein Lehrer gesagt hat: «Wenn die Aufführung ist, öffnest du den Mund nicht.» Novalis hat gesagt: «Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung.» Das drückt sehr poetisch aus, dass immer dort, wo es nicht schwingt, wo etwas gestockt, blockiert ist, ein Trauma, eine alte Erfahrung immer noch wirksam ist. Das ins Fliessen zu bringen, daraus Musik zu machen, das ist die Heilung. 

Peter Roth hat die künstlerische Leitung der Klangwelt an Christian Zehnder weitergereicht. Bei den 19 Mitarbeitenden der Klangwelt ist die Jugend in der Überzahl. Solange Roth lebt, möchte er den Gralshüter spielen: «Es braucht viel Feingefühl beim Dreinreden. Das übe ich jetzt.»

Praxis-Tipp von Peter Roth

In die Leere kommen heisst, in die Verbindung zum Urgrund zu kommen. Dieser Urgrund macht uns frei von Erwartungen, Wünschen und Vorstellungen. Über das Singen und Klingen kann man mit sich selber in Kontakt kommen und diese Leere erreichen. Damit erreichen wir das Mehr an Möglichkeiten und das Potential.

Klangwelt Toggenburg

Sonnenhalbstrasse 22,
CH-9656 Alt St. Johann SG
info@klangwelt.swiss
klangwelt.swiss
Bietet Erlebnisse zum
Thema Resonanz, Brauchtum und Stimme in Klangkursen, auf dem Klangweg, in der Klangschmiede, am Klangfestival und bald im Klanghaus.

Peter Roth

CH-9658 Wildhaus SG
roth.unterwasser@bluewin.ch
peterroth.ch
vomzauberklang.ch
Musiker, Komponist und Referent. Geistiger Vater der Klangwelt Toggenburg

Redaktor Daniel Linder

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