Wer kennt sie nicht, diese wunderbare Kathedrale im Herzen Frankreichs, unweit von Paris. Fast vollständig renoviert, lässt sie mittlerweile das originale Strahlen einer gotischen Kathedrale des Lichts erkennen. Unser Glück: Alles wird originalgetreu restauriert, nichts wird durch Replikate ersetzt, insbesondere die Fenster wurden gereinigt und als Originale wieder eingesetzt. Somit können wir die Strahlkraft dieser wunderbaren Buntglasfenster erleben wie vor 800 Jahren. Die mittelalterliche Ikonographie birgt viele Rätsel: Die nun wieder durchsichtigen Gläser, befreit vom Kerzenruss der Jahrhunderte und von den Russablagerungen der Neuzeit aus Industrie und Verkehr, offenbaren Bildnisse, die äusserst selten sind.

So zum Beispiel das Bildnis einer nährenden Mutter Gottes, der Maria lactans. Diese Darstellung ist eng mit dem Begründer der Zistercienser verbunden, Bernhard de Clairvaux. Von Zweifeln bezüglich der Mutterschaft Marias soll er ein Bildnis der Maria aufgefordert haben: «Beweise, dass Du eine Mutter bist!» Daraufhin spritzten drei Tropfen Muttermilch auf seine Lippen.

Obwohl das Bildnis einer stillenden Göttin bereits in Ägypten auftaucht, Isis stillt ihren Sohn Horus, so ist die Darstellung der Gottesmutter mit zum Stillen entblösster Brust in der christlichen Ikonographie des Mittelalters sehr selten. Umso überraschender ist, dass dieses Bild in den Glasfenstern der Kathedrale Notre Dame de Chartres sogar zweimal zu sehen ist: Einmal im Chorraum, der im Mittelalter nur dem Klerus zugänglich war und im Mittelschiff in den Fenstern des Obergaden.

So ungewöhnlich diese Bildnisse auch sind, sie sind hoch oben eingesetzt und ohne Feldstecher kaum zu erkennen. So bleibt dem blossen Auge auch ein wichtiges Detail verborgen: Das gestillte Kind ist kein Baby. So könnte das Bild aus dem Mittelschiff vielleicht sogar Bernhard darstellen, als das Wunder geschah. Wir wissen es nicht, es gibt keine Aufzeichnungen.

Vieles bleibt Geheimnis in der Kathedrale von Chartres. Auch das zu den Sonnwenden einsetzende wahre Lichtwunder ist nur wenigen bekannt. Ich war eine der Glücklichen, die zur rechten Zeit am rechten Ort waren, um dieses Wunder zu erleben – erstmals nach der Restauration der Rosen.

Neugierig geworden? Dann empfiehlt sich ein Besuch der Kathedrale.
Das Lichtwunder ist zur Winter- oder Sommersonnwende, bei schönem Wetter und bei Sonnenuntergang zu beobachten. Lassen Sie sich Zeit, die Rosen zu betrachten, das Lichtwunder zu erkennen.