Tao des Friedens
Das Evangelium nach Thomas ist das bekannteste Schriftstück aus einer Klosterbibliothek, die man in einem Tonkrug verschlossen in Ägypten gefunden hat. Sie besteht aus dreizehn in Leder gewickelten Papyrusbündeln, die offenbar verborgen werden mussten. Im 4. Jahrhundert nach Christus wurde die Bibel zusammengestellt und als einziges verbindliches Gedankengut der Christenheit deklariert. Andere Schriften wurden geächtet und verboten. Da hat der Wüstensand einen geheimnisvollen Fund freigegeben. Die Schriften sind in koptischer Sprache verfasst, wie sie zur Zeitenwende in Ägypten gesprochen wurde. Das Thomasevangelium ist eine Mitschrift der Gespräche Jesu mit seinen Jüngern, die von Thomas aufgezeichnet wurde. So ist ein Dokument der ersten Stunde entstanden und wir werden Zeuge einer Geheimlehre, die Jesus ganz privat seinen engen Vertrauten zukommen liess. …
Wie lehrt ein solcher Meister? Sehr indirekt. Man kann bei ihm keinen Kurs buchen, bei dem man alles Mögliche lernt und am Ende ein Zertifikat bekommt. Er schaut sich seine Schüler an, erkennt ihr Wesen und bringt sie auf ihren sehr eigenen Weg. Er löst Blockaden, öffnet Energiekanäle. Oft unmerklich, rein mental. Er spricht wenig, aber präzise, also eher in kurzen Ansagen (Logien!) als in langen Vorträgen. Die Ansagen sind oft mehrdeutig und regen zum Nachdenken an: «Wer Ohren hat, der höre!» So verstehen die Schüler sehr oft nicht, was er meint: «Was ihr mich vor Tagen gefragt habt, habe ich euch da nicht beantwortet. Jetzt will ich es sagen, aber ihr fragt nicht danach. Viele sind um den Brunnen, aber niemand will vom Brunnen trinken.» (93,94) …
Das Königreich des Vaters ist in euch
Das Land, das es zu erkunden gilt, ist das Königreich des Vaters. Dieses Land liegt im Verborgenen. Es ist über die ganze Erde verteilt, es ist aber auch so klein, wie der kleinste Samen, ein Senfkorn. Man kann es besitzen, aber auch unmerklich verlieren. Es ist ein geheimes Land, nicht leicht zu erkunden, weil wir es irgendwo anders suchen und nicht wissen, dass es in unserem Inneren zu finden ist. Darauf weist der Meister immer wieder hin: Wir waschen das Äussere des Bechers, vergessen das Innere zu reinigen.Wir sorgen uns um unsere Kleidung, um nach Aussen etwas darzustellen und scheuen uns, unser eigentliches Wesen zu zeigen und stimmig zu sein, authentisch. Mehrfach weist er darauf hin, dass die in das Königreich des Vaters eingehen, die werden wie die Kinder: Sie entledigen sich gern ihrer Kleidung und trampeln darauf herum. Sie schämen sich nicht für das, was sie sind. …
Ich bin das Licht, der Ursprung von allem
Die Jünger beschäftigt immer wieder, wer er denn nun ist, ihr Meister. Nun, was meinen sie? Petrus hält ihn für einen gerechten Boten, Matthäus hält ihn für einen klugen Philosophen. Thomas sagt zu ihm: «Meister, ich bringe es gar nicht übers Herz zu sagen, wem du gleichst.» Da sagte Jesus: «Ich brauche nicht länger dein Meister zu sein; du hast bereits getrunken von der lebendigen Quelle, die ich sprudeln liess und du bist beseligt.» Dann nahm er ihn beiseite und sagte ihm drei Worte. Nun wollten die Jünger wissen, was er ihm gesagt hatte. Das verriet Thomas ihnen nicht. Sie würden ihn steinigen. Es bleibt ein Rätsel. Doch wenn wir zwischen den Zeilen lesen können, wird es sich zeigen. …
Ein Ausweg aus dem Chaos der Welt der Finsternis heisst für den Gnostiker: Erkenne, wer du bist! Das ist die Aufgabe, die gestellt wird. Es gilt eine Kostbarkeit zu finden: die Perle. Eine Perle fand man im Altertum nicht wie heute an jeder Strassenecke. Perlen wurden weder gezüchtet noch imitiert. Man musste die e i n e Muschel unter hunderten finden, die eine echte Perle barg. Diese Perle schimmert in einem sanften Licht und mag als Zeichen der Welt des Lichtes gegolten haben, ein kleiner Funken des grossen Lichtreiches, «ein Tropfen Licht», wie wir in einem anderen Text lesen. Die Perle zu finden bedeutete zu wissen, woher ich komme und wohin ich gehe. …
Geheimlehren: Die Macht, enorme Energien zu beherrschen
Bei den Geheimlehren geht es um ein Wissen, das von einem Lehrer an Schüler weitergegeben wird, die darauf vorbereitet wurden. In Griechenland nannte man es Esoterik, verborgenes Wissen, im Gegensatz zu Exoterik, einem Wissen, das überall verbreitet werden kann. Diese Tradition geht auf Pythagoras und seine Schule zurück.
Die Schriften und Botschaften der koptischen Klosterbibliothek sind für uns heute nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Unser materialistisch geprägtes Weltbild hat die Religion, die Rückbindung an das Ewige, das Erleben des Heiligen bis zur Unkenntlichkeit verflacht. Insofern sind wir nicht gut vorbereitet auf eine Geheimlehre, wie sie das Thomasevangelium für uns bereithält. Jesus sprach: «Ich teile meine Geheimnisse mit denen, die meiner Geheimnisse würdig sind. Was deine Rechte tut, soll deine Linke nicht wissen. Hüte das Geheimnis!» (62) …
67. Der Himmel wird vergehen und der Himmel über ihm wird vergehen. Und die Toten leben nicht und die Lebenden werden nicht sterben. Sucht das Lebendige, solange ihr lebt. …
81. Darum soll, wer sucht, nicht aufhören zu suchen, bis er sich findet. Und wenn er sich findet, wird er erst einmal erschüttert sein und wenn er so tief bewegt ist, wird er Wunderbares erleben und übernatürliche Kräfte haben. …
99. Jesus sagte: Der Vater schuf den Menschen nach seiner Gestalt. Diese Abbilder sind den Menschen sichtbar. Aber das Licht in ihnen ist unsichtbar. Das Licht des Vaters, es wird sich offenbaren. Aber seine Gestalt wird verborgen bleiben unter seinem so grossen Licht.
100. Wenn ihr euer Abbild seht, freut ihr euch. Wenn ihr aber eure Abbilder sehen werdet, die vor euch entstanden sind, eure Ur-Bilder, die unsterblichen und unsichtbaren, wie werdet ihr das aushalten? …
104. Jesus sprach: Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen und das All kehrt zu mir zurück. Spaltet Holz, ich bin da. Hebt den Stein auf, ihr werdet mich finden.
105. Wer von meinem Munde trinkt, der wird wie ich. Ich selbst werde er werden und die Geheimnisse werden sich ihm offenbaren.
106. Und wenn man euch fragt: «Woher seid ihr gekommen?» antwortet ihnen: «Wir kamen aus dem Licht, wir kamen von dem Ort, wo das Licht entstanden ist aus sich selbst. Es entstand und es offenbarte sich in der Gestalt des ewigen Vaters.» Wenn man euch fragt: «Wer seid ihr?» so antwortet: «Wir sind seine Söhne und wir sind die Erwählten des lebendigen Vaters.» Wenn man euch fragt: «Was ist das Zeichen eures Vaters an euch?», so antwortet ihnen: «Bewegung ist es und Ruhe».
Das sind die geheimen Worte, die Jesus mit seinen Jüngern teilte. Der Meister wird seine Jünger führen, dass sie Gegensätzliches, männliche und weibliche Energie in sich verschmelzen können und Frieden finden. Wie er werden sie über Land ziehen, Kranke heilen, Tote erwecken, den Sturm stillen. Sie werden Lichtmenschen sein.
Der Regenmacher
Im fernen Osten erzählt man sich eine Geschichte: Die Menschen waren in grosser Sorge. Es hatte wochenlang nicht geregnet, die Felder waren verdorrt, die Brunnen versiegt. Wenn es nicht bald regnen würde, käme eine Hungersnot. Ein alter Mann meinte, einige Tagesreisen von hier gäbe es einen Einsiedler, der verstünde sich auf die Kunst, Regen zu machen. «Wir könnten einen Boten schicken und ihn rufen.» Gesagt, getan. Und der Einsiedler kam. Er hörte sich die Sorgen an, sah die Felder und nickte. Was er denn brauche, um seine Arbeit zu tun, wollte geschäftig man wissen. «Gebt mir eine Hütte, ein wenig weiter draussen vom Dorf, etwas Nahrung und ein bisschen Zeit.» Ein Tag verging und ein zweiter. Nichts geschah. Am dritten Tag begann es zu regnen und es regnete eine ganze Woche. Auf den Feldern zeigten sich Spuren von Grün. «Was hast du gemacht?» wollte man vom Einsiedler wissen. «Ach, ich habe eingeatmet und ausgeatmet, gegessen und geschlafen. Es war sehr friedlich da draussen in der Hütte. Danke für eure Gastfreundschaft.» Sprach`s, nahm sein Bündel und machte sich wieder auf den Weg.
Man sagt, wenn es nur einen Menschen gibt, der den Frieden in sich hat und mit dem Tao in Einklang ist, kann alles um ihn herum und weit darüber hinaus in die Ordnung zurückfinden. …
Renate Siefert
Das Thomasevangelium neu gelesen –
Tao des Friedens –
Ein Quantensprung des Bewusstseins
Taschenbuch 160 Seiten
BoD – Books on Demand 2024
Auszüge mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
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