Umgangsformen mit dem Inneren
Die Seele ist umkämpft, das ist sie schon lange. Beispielsweise wurde im 17. Jahrhundert öfters in Frage gestellt, ob dieses oder jenes Lebewesen eine Seele hätte. Diese verstörende Frage stellten Wissenschaftler sogar bezüglich Frauen, anderen Menschenrassen aber auch über Tiere und die Natur. Die Perücke schien ihnen ungünstig auf den Kopf gedrückt zu haben. Sie lebten gefangen in einem Konzept von Wissenshaft, das sie auf ihr Ego zurückwarf und jede Wahrnehmung von Offensichtlichem ausschloss. Wer lebende Wesen ernsthaft ansieht oder beobachtet, erkennt in ihnen die lebendige Seele und den Geist. Erleben wir die Bewegungen des Kindes vor der Geburt, so erkennen wir daran seine Seele. Beachten wir den Vogelflug und deren Gesang, so können wir nicht abstreiten, dass deren seelische Bewegung auf unsere Seele wirkt: Wir fühlen die Tiere. Besonders kleine Kinder lieben Tiere und sind höchst wissbegierig, alle ihre Bewegungen und Laute zu erkunden. Aber auch Erwachsene reagieren auf das Schnurren ihrer Katze oder wenn ihr Hund auf sie zurennt und den Schwanz wedelt. Der Mensch fühlt, ohne es von sich weisen zu können, die Seele der Wesen, die ihn umgeben. Dennoch verwehrt ein Zweig der Wissenschaftlichkeit, etwas anzuerkennen, das sich mit gängigen Mitteln nicht messen oder wiegen lässt.
Wir können sagen, dass das zu einer Seelenarmut führt, zu Roheit gegenüber den Lebewesen und einer Leere im Inneren. Denn das Aberkennen der Seele und des Geistes beim anderen Lebewesen raubt uns selbst den Zugang dazu: Der Raub am anderen macht uns selber arm.
Denken und Wissen überladen
Wir sind eine intelligente, intellektuelle Informationsgesellschaft: Allerlei kann stets nachgeschaut werden und bei manchem mag das Phone smarter sein als der Mensch selbst. Der Zugang zu Informationen ist gegenüber der Zeit vor hundert oder mehr Jahren gewaltig angeschwollen. Doch Wissen muss verdaut werden. Erfahren wir, dass wir statistisch wahrscheinlich ein Alter von 83 Jahren erreichen werden, so müssen wir diese Information einordnen und mit der Lebensrealität in Einklang bringen, sonst hören wir eine Uhr ticken, sehen die Zeit verrinnen und das ängstigt uns. Wenn wir Statistiken über die Wärmentwicklung des Planeten vorgelegt bekommen, so müssen wir diesen Ausblick mit uns selbst ausmachen. Wir müssen entscheiden, wie wir uns dazu stellen. Doch in der Flut von Informationen schieben wir die einzelnen oft beiseite, auch wenn sie uns schrecken oder berühren. Daraus ergibt sich ein ungeordneter Haufen von Wissen im Innern, der sich zu Ängsten auswachsen kann. Denn die Seele ist mit der Masse an Informationen nicht mitgewachsen. Die Seele ist in einem historischen Zustand, während das Denken und Wissen überladen ist. So überschwemmt das Wissen unser Empfinden und erdrückt die zarten Seelenentwicklungen. Die Seele kann ihre Kraft, Wissen einzuordnen und zu verarbeiten, gar nicht ergreifen. Die Fähigkeit, sich gegenüber Wissensfluten zu emanzipieren, wird erstickt, ohne dass wir uns unserer Fähigkeit auf diesem Gebiet bewusst werden.
Wahrnehmungstiefe hilft
In unserer Gesellschaft grassieren viele seelische Beschwerden: Angstzustände, Nervosität, Overthinking¹ und andere Schwierigkeiten belasten viele Menschen, besonders Jugendliche. Todessehnsucht, Depression und Selbstverletzung sind ein schwerwiegendes Thema, das auch das Umfeld der Betroffenen stark mitreisst und verstört. Das Gefühl von Sinnlosigkeit und die Infragestellung der Existenz greift um sich und aus all dieser Verzweiflung können sich viele Menschen selbst nicht retten. Szenarien der Bedrohung, sei es aus der Ökologie, den Kriegen oder Krankheitsentwicklungen, wirken verstörend und isolierend. Angst frisst die Seele auf und macht sie schwach und hilflos, insbesondere wenn sie einem von intellektueller Warte abgesprochen wurde. Wie können wir uns etwas aus uns selbst erretten, an das die medizinische, mediale oder politische Autorität nicht glaubt?
Gehen wir aber davon aus, dass alles aus Seele und Geist geschaffen ist, so erkennen wir Geist und Seele in allem, was ist. Betrachten wir, wie Tiere im Rudel aufeinander achten und sich gegenseitig pflegen. Betrachten wir, wie Bäume ihre Äste so ausbreiten, so dass sie mit dem anderen Baum eine Nachbarschaft bilden, kommen wir nicht umhin zu erleben, dass sie fühlen, wo der andere Baum anfängt: Die Linde fühlt, wo der Ahorn wächst, wo er hinwill. Das Moos fühlt, dass ein Baum vergreist und bewächst ihn begierig zusammen mit den Flechten. Der Baum, das Tier und wir Menschen fühlen die Erde unter uns. Wir fühlen uns wohl oder wir fühlen Dissonanz. Die einen lieben sie, die anderen fliehen sie, doch wir alle reagieren auf die Verwerfungen in der Tiefe, die Wasserläufe und die heilenden Linien und Züge im Erdreich. Das Beobachten der Empfindungen um uns herum eröffnet uns eine Wahrnehmungstiefe, die wir mit einer schlichten materialistischen Denkweise verpassen. Doch sehen wir es bis ins Äussere: Die Bewegungen der Seele und der Lebenstriebe sind sichtbar und messbar. Wo wachsen die Äste und die Wurzeln gerne und üppig, wo meiden sie eine Stelle? Wo hält sich die Katze gerne auf, wo nimmt sie Reissaus? Welcher Tisch im Restaurant ist beliebt, welcher bleibt oft leer? Das Abtun des Offensichtlichen wird als Zufall bezeichnet. Doch das Abtun beraubt den Menschen – vielfach auch Kinder, die mitfühlend die Welt entdecken – eines Zugangs zur Natur – sowie des eigenen Innenlebens.
Hinlauschen und Singen
Wir können mit künstlicher Musik, künstlichen Bildern und Erlebnissen den ganzen Tag anfüllen: Radiowecker, News auf dem Smartphone, Tiktok und Filme können unser Innenleben so ausfüllen, dass wir uns nur noch marginal Zeit lassen, die eigene Seele sprechen zu lassen. Fallen diese Angebote weg, geraten gewisse Menschen in Not und Rastlosigkeit.
In den Zeiten vor Radio und Musikstreaming haben Menschen viel gesungen. Sie waren lauter als wir es heute sind. Literatur wurde laut gelesen, Shakespeare klang anders als Kant oder Kochbücher. Briefe las man laut und erst der öffentliche Verkehr der Eisenbahn hielt Menschen dazu an, leise zu lesen, damit der Nachbar ungestört etwas anderes schmökern konnte. Jede Tätigkeit hatte ihr Lied und ihren Rhythmus. Die Köchin, der Seiler, der Seemann, die Näherin, die Bauern bei der Feldarbeit, sie alle hatten Lieder und Gesänge. Wenn wir singen, so bewegt uns diese Kunst. Das Singen erfüllt unsere Seele, auch wenn wir zuhören und nur im Refrain einsteigen und einer anderen Stimme die Führung überlassen. Dieses Singen, das in den Tätigkeiten lebte und von der Enge der Städte und dem öffentlichen Verkehr stillgelegt wurde, waren Menschen gewohnt und sie genossen es. Es machte eine saure Arbeit erträglicher und die Eintönigkeit des Netzeflickens oder des Wäschewaschens wurde durchbrochen. Darum war das Beschallen der Arbeit mit künstlicher Musik so willkommen. Doch das Radio mit Nachrichten und Werbung überklingt den Innenraum viel stärker als der Gesang, auch wenn die Stimme des anderen Menschen einen berührt. Bevor man ein Video anschauen darf, wird einem beziehungslos irgendeine Werbung aufgedrängt. Nachrichten berichten selten von Erfreulichem, sondern ergehen sich lieber in Blut, Mord und Totschlag. Sensation und Schaudern erhält das Interesse. Darum lässt uns das elektronische Beschallen unseres Tuns nicht frei, sondern belegt unser Inneres mit Fremdinformationen, ehe die Seele sich bewusst ist, wer sie ist und was sie vom heutigen Tage will.
Doch das Lauschen in unseren Innenraum würde unsere Impulse deutlich machen. Wir würden uns Rechenschaft ablegen, wenn ein Zustand unerträglich ist. Wir würden die Impulse aus dem Grunde der Seele fühlen, warum wir etwas unternehmen, um einen Zustand zu verändern. Wir würden im Jetzt sein und nicht einer Melodie nachträumen, die vor Jahren einmal Bedeutung für uns hatte oder die so stark suggestiv ist, dass sie unsere Seele überrollt. Wir könnten den ungeordneten Haufen von angesammelten Informationen aufräumen und ordnen, was uns betrifft und was an uns vorbeigeht.
Musik und Kochkunst
Das Zulassen der Stille lässt die Seele in ihren Rhythmus kommen. Vielleicht entspringt dem Gemüt dann eine eigene Melodie, vielleicht beginnt man zu summen oder zu singen, sei es vertraut oder neu. Auf dieses Singen zu lauschen – dieses Erkunden des eigenen Klanges – pflegt die Seele und tut ihr wohl. Denn die Seele lebt von Kunst und Phantasie. Das nährt sie, genau wie das Schöne, die Wärme zwischen Menschen und die Freude. Kunst und Phantasie schenkt uns das Empfinden von Freiheit: Denn die Kreativität der Seele hebt uns aus den Bedingungen heraus und schafft neue Freiräume. Sklaverei ist das Ende der Kreativität. Nichts kann entstehen, wird erfunden, wo der arbeitende Menschen nicht geachtet wird. Wo die Kunst beginnt, beginnt auch die Kreativität im Alltäglichen.
Ein bitteres Beispiel dafür ist die Sklaverei im 19. Jahrhundert. Als Millionen Afrikaner nach Amerika verkauft wurden, sprachen ihnen die Sklavenhalter Zugang zu Religion im Allgemeinen und zum Christentum im Besonderen ab. Sie durften nicht lesen, insbesondere nicht das Evangelium. Die Gewinnung der Baumwolle und des Zuckers war ihre Aufgabe und sie wurde archaisch geführt ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob man die Abläufe einfacher und besser gestalten könnte. Mit ihrer Befreiung 1864 erlangten die Afroamerikaner das Recht aufs Evangelium, englisch Gospel: Sie lernten die Worte und sangen sie und erlebten daraus Freiheit und Identität, die ihnen über viele Jahrzehnte abgesprochen worden war. Gerade die Musik, vom Gospel zum Jazz und später Rock ’n‘ Roll, sowie die Kochkunst brachte ihr Erbe und ihre Identität in die amerikanische Kultur ein.
Befreiung durch Kreativität, Spiritualität und Freude
Das Verfahren, um die Samen aus der Baumwolle zu lösen, wurde rapide verbessert, nachdem die Sklaven endlich Rechte erhielten. Ein bereits bestehendes Patent für eine Maschine wurde nun gebaut: die Egreniermaschine². Das Verfahren wurde erst technisch verbessert, als man die Arbeiter bezahlen musste.
Dieses Beispiel macht deutlich, wie der Zugang zu Religion und Spiritualität, dem inneren Erleben und Singen dieser Inhalte, Menschen ihre Identität zurückgab. Das wurde auch vom Umfeld gehört. Der Einfluss der Afroamerikaner auf die Kultur und Kunst ist gravierend und unbestritten. Er entstammt der befreiten Seele, die sich über den Klang ihrer Stimme und den Duft ihrer Speisen Identität zu verschaffen vermochte.
Somit können wir sagen: Die Seele entdeckt ihre Stimme und ihren Rhythmus, um sich ihrer selbst bewusst zu werden. Die Seele verarbeitet das Leben, das auf sie einstürmt, indem Kunst, Kreativität, Spiritualität und Freude sie befreien. Vielleicht inspiriert die Kultur im Umgang mit der eigenen Seele auch den anderen Menschen, strahlt aus und beschenkt. Vielleicht tröstet ein Mensch einen anderen, wenn in ihm die Seele lebendig ist und den Traurigen, die Verzweifelte, den Hoffnungslosen oder die Verlorene ermutigt. Wenn die Seele den Umgang mit sich selbst pflegt, hat sie es auch leichter, ihn mit anderen Seelen zu pflegen.
Anmerkungen
1 Overthinking – Zu langes Nachdenken über Ängste oder Sorgen
2 Vgl. Hobhouse, Henry, Fünf Pflanzen verändern die Welt, 1992, S. 192–240.
Praxistipp von Anthea Bischof
Es pflegt die Seele, sich am Morgen zu fragen: Wie geht es mir? Was bringe ich aus der Nacht mit? Was liegt auf dem Grunde meiner Seele und steigt nun auf? Diese Fragen kann man nicht unbedingt beantworten, aber sie wirken auf das Bewusste und das Unterbewusste unserer Seele. Aus diesem Interesse am Inneren werden wir andere Menschen inniger und empathischer fragen, wie es ihnen geht. So pflegen wir auch die Seelen unserer Mitmenschen liebebevoll.
Autorin
Dr. Anthea Bischof
Praxis Weinberg
CH-8001 Zürich
fragen@karma-biographie.ch
karma-biographie.ch
Studium spiritueller Lehren aller Zeiten und Gegenden auf Grundlage von C. G. Jung und der Anthroposophie.
Erforschung von Karma und Reinkarnation.
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