Unverfügbarkeit

Hartmut Rosa
Hartmut Rosa: «Nach meiner Lesart besteht die Kulturleistung der Moderne gerade darin, dass sie die menschliche Fähigkeit, Welt auf Distanz und in manipulative Reichweite zu bringen, nahezu perfektioniert hat.» Foto: juergen-bauer.com

Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich ausserhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich nicht vorhersagen oder planen, daher eignet dem Ereignis der Resonanz immer auch ein Moment der Unverfügbarkeit.

Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, das heisst, wenn sie zur Aufrechterhaltung ihres institutionellen Status quo des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung bedarf, so lautet meine Definition einer modernen Gesellschaft. Dabei verkehrt sich in der kulturellen Wahrnehmung die Steigerungsperspektive nach und nach von einer Verheissung in eine Bedrohung: Wachstum, Beschleunigung und Innovierung erscheinen nicht mehr als Versprechen, das Leben immer besser zu machen, sondern als apokalyptisch-klaustrophobische Drohung: Wenn wir nicht besser, schneller, kreativer, effizienter etc. werden, verlieren wir Arbeitsplätze, kommt es zu Firmenschliessungen, sinken unsere Steuereinnahmen, während die -ausgaben steigen, kommt es zur Haushaltskrise, können wir unser Gesundheitssystem, unser Rentenniveau, unsere kulturellen Einrichtungen nicht mehr aufrechterhalten.

Es gibt keine Nischen oder Plateaus mehr, die es uns erlaubten, innezuhalten oder gar zu sagen: »Es ist genug.« Dies zeigt sich empirisch etwa in dem Faktum, dass die Mehrzahl der Eltern in den sogenannten entwickelten Gesellschaften nach ihrer eigenen Auskunft nicht mehr von der Hoffnung motiviert wird, dass es die Kinder einmal besser haben mögen als sie selbst, sondern von dem Verlangen, alles zu tun, was sie irgend können, damit es ihnen nicht schlechter geht.

«Es gibt keine Nischen oder Plateaus mehr, die es uns erlaubten, innezuhalten oder gar zu sagen: «Es ist genug.»
Hartmut Rosa

Wie viel Welt wir in Reichweite haben, lässt sich unmittelbar an unserem Kontostand ablesen. Ist er hoch, dann liegen die Kreuzfahrt in die Südsee, das Wochenendhäuschen in den Alpen, die Luxuswohnung, der Ferrari, die Diamantenkette, der Steinway-Flügel, auch die Ayurveda-Kur in Südindien oder eine geführte und gesicherte Tour auf den Mount Everest in unserer Reichweite.

Wir sind strukturell (von aussen) dazu gezwungen und werden kulturell (von innen) dazu getrieben, die Welt zum Aggressionspunkt zu machen; sie erscheint uns als das, was es zu wissen, zu erschliessen, zu erreichen, anzueignen, zu beherrschen und zu kontrollieren gilt. Dabei geht es oft nicht darum, Dinge – Weltausschnitte – überhaupt erreichbar zu machen, sondern sie schneller, leichter, effizienter, billiger, widerstandsloser, sicherer verfügbar zu haben.

Das immer weitere Anwachsen von Regularien, Vorschriften und Gesetzen ist der manifeste Ausdruck des Versuches, das soziale Leben planbar und verfügbar im Sinne des Justiziablen zu machen – eines Versuches, der freilich auf dramatische Weise zu scheitern droht, wie ich noch ausführen werde. Tatsächlich lässt sich der ubiquitäre Kampf um Macht in allen Hinsichten als Kampf um Verfügungsgewalt und damit um Weltreichweite verstehen: Gleichgültig, ob es um direkte Befehlsgewalt, um ökonomische Ressourcen, um Verfügungsrechte oder um andere Formen der Herrschaft geht, Macht manifestiert sich stets in der Ausdehnung der eigenen Weltreichweite, oft auf Kosten anderer, wobei nicht selten die individuelle Reichweite dieser anderen partiell oder ganz unter die je eigene Kontrolle und Verfügungsgewalt gebracht wird.

Meine These lautet, dass dieses institutionell erzwungene und kulturell als Verheissung und Versprechung fungierende Programm der Verfügbarmachung von Welt nicht nur nicht funktioniert, sondern geradewegs in sein Gegenteil umschlägt.

In der Arbeit formen und verwandeln wir uns selbst, formen und verwandeln wir unsere Umgebung und formen und verwandeln wir den Stoffwechselprozess selbst. Dieser Prozess der Anverwandlung ist nach Marx in der Moderne aber fundamental gestört, und es lässt sich durchaus sagen, dass die Störung darin liegt, dass Welt (in Form von Rohstoffen, Produkten, die wir hergestellt haben, und Gütern, die wir konsumieren) nur noch angeeignet und nicht mehr anverwandelt wird: Weil den unter kapitalistischen Verhältnissen (Lohn-)Arbeitenden das, was sie produzieren, nicht gehört, sind sie vom Produkt ihrer Arbeit entfremdet; weil sie aber auch über die Ziele, Mittel und Formen der Produktion nicht bestimmen dürfen, sind sie auch vom Prozess der Arbeit entfremdet und damit von jenem Prozess, der ihr ganzes Wesen ausmacht und formt. Weil ihnen dabei die zu bearbeitende Natur nur noch als ökonomisierbarer Rohstoff oder Gestaltungsobjekt entgegentritt, entfremden sie sich darüber hinaus auch von der Natur.

Weil die Menschen miteinander im stetigen und existenziellen Wettbewerb stehen, begegnen sie sich prädominant als Konkurrenten und damit in latenter Feindschaft. In der Summe aber führt dies zu einer unaufhebbaren Selbstentfremdung. Marx teilt damit die Erkenntnis, dass Selbst- und Weltverhältnisse stets aufeinander angewiesen sind – ohne ein intaktes Weltverhältnis kann es kein gelingendes Selbstverhältnis geben und vice versa. Wer sich selbst nicht spürt, kann sich die Welt nicht anverwandeln, und wem die Welt stumm und taub geworden ist, dem kommt auch das Selbstgefühl abhanden.

Globalisierung signalisiert heute im politischen Diskurs die Wahrnehmung eines chaotischen, gefährlichen, unkontrollierbaren Aussen, das gegen unsere begrenzte Welt des Vertrauten gefährlich andrängt und vor dem uns Protektionisten und Militaristen mit Mauern und Schutzzäunen, mit Schutzzöllen und auch mit Selbstschussanlagen zu bewahren versprechen. Die Welt wird damit zum unheimlich Bedrohten und zum unheimlich Bedrohlichen zugleich – und dies ist just das Gegenteil des Verfügbaren; sie erscheint als unverfügbar.

Die Moderne, so lautet meine soziologische These, ist kulturell darauf ausgerichtet und durch ihre institutionelle Verfassung strukturell dazu gezwungen, die Welt in allen Hinsichten berechenbar, beherrschbar, vorhersagbar, verfügbar zu machen: Durch wissenschaftliche Erkenntnis, technische Beherrschung, politische Steuerung, ökonomische Effizienz und so weiter. Resonanz aber lässt sich nicht verfügbar machen: Das ist das grosse, konstitutive Ärgernis dieser Sozialformation, es ist ihr Grundwiderspruch, das, was in immer neuen Varianten Wutbürger produziert. Diesen Grundwiderspruch in allen seinen vielfältigen Erscheinungsformen und mit all seinen sozialen und psychischen Konsequenzen auch dort aufzuspüren, wo wir ihn in unserem Alltagshandeln und auf den sozialen Konfliktfeldern der Gesellschaft nicht vermuten würden, ist die eine Zielsetzung, die ich im zweiten Teil dieses Buches nun verfolgen möchte in der Hoffnung, dadurch ein erhellendes Licht auf die Schwierigkeiten zu werfen, in denen sich diese Moderne in ihrem Naturverhältnis ebenso wie in ihrem politischen und subjektiven Selbst- und Weltverhältnis befindet. Das andere Ziel aber besteht darin, durch das geduldige Herausarbeiten der jeweiligen Spannungslinien zwischen Resonanzbegehren und Verfügbarkeitsverlangen Ideen dafür zu gewinnen, wie sich jener Widerspruch dereinst vielleicht überwinden oder lösen lassen könnte.

Auszüge aus Hartmut Rosa Unverfügbarkeit. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Hartmut Rosa Unverfügbarkeit

Hartmut Rosa

Unverfügbarkeit

131 Seiten, Residenz Verlag Wien, Salzburg, 2018, 3. Auflage 2019.

Prof. Hartmut Rosa
geb. 1965 in Lörrach, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie, Begründer der Resonanztheorie

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