Was ist eigentlich ein Drache?

Dass ich mich für Drachen bewusster interessierte, begann, als ich für unsere ersten beiden Kinder auf das Buch Expedition in die geheime Welt der Drachen von Dr. Ernest Drake stiess. Der eindringliche Weckruf auf dem Buchtitel lautete: «Nur wenige können Meister der Drachenkunde werden. Ihre Aufgabe ist es, die letzten verbleibenden Drachen zu schützen, denn wer kann schon sagen, wie viele noch das nächste Jahrhundert überstehen und wie viele aussterben werden? Wenn dies geschieht, werden viele Menschen unwidersprochen behaupten, dass es nie Drachen gab, ausser in der Fantasie. Aber dies darf niemals geschehen!»
Mit einer unglaublichen Schöpferseele und viel Liebe fürs Detail schildert und illustriert der Autor kindgerecht verschiedene Drachenarten und ihre Verbreitung über die ganze Welt: Wie man sich Drachen nähert, wo man sie findet, welche Höflichkeiten bei der Begegnung zu beachten sind, welche Schutzkleidung man tragen sollte, Hautreliquien von Drachen zum Anfassen und wie man Drachologe wird. Ein liebevoll gestaltetes Kinderbuch, das auch den letzten Erwachsenen nicht mehr daran zweifeln lässt, dass es Drachen gibt. Das Erscheinungsjahr dieses Buches ist nicht zu ermitteln und wie alt dieses überlieferte Wissen ist, scheint unergründlich.
Wieviele Erwachsene stehen bei der Kinderfrage Was ist eigentlich ein Drache? ein wenig hilflos da?
Ethymologisch stammt der Begriff Drache vom Griechischen drakon ab, was
eigentlich Schlange, beziehungsweise der scharf Blickende bedeutet. Im
Lateinischen wurde Draco auch als Name für das Sternbild Drachen eingeführt.
Im Althochdeutschen von trahho wurde es im Mittelhochdeutschen zu trache für ein
mythisches Wesen, welches zwischen
einem feuerspeienden Ungeheuer und einer geflügelten Schlange angesiedelt ist. Bei Kelten und Germanen wurden Drachen oft als Hüter von Schätzen und heiligen Orten verstanden. Es geht um Stärke, ein kraftvolles Hindernis oder
eine schwere Prüfung.
Drachenblut macht unbesiegbar
Die mittelalterliche Nibelungensage bringt uns durch Siegfried, den Drachentöter mit dem in deutschen Gefilden beheimateten Drachen Fafnir in Kontakt. Nachdem er den Drachen Fafnir getötet hat, badet er in seinem Blut und gilt fortan als unbesiegbar. Neben allerlei anderen magischen Mitteln wird er am Ende durch Geheimnisverrat seiner einzigen verletzlichen Stelle am Körper, wo ein Lindenblatt verhinderte, dass das Drachenblut ihn benetzte, durch eine Lanze seines Auftragsmörders Hagen getötet. Drachenblut macht also unbesiegbar. Hier ahnen wir schon die magischen bis schwarzmagischen Hintergründe, die sich in diesem Fall hinter und in dem Drachen verbergen. Schwarzmagisch, weil die übersinnliche Kraft zum eigenen selbstsüchtigen Nutzen missbraucht wird zu Machtzuwachs und gieriger Reichtumsvermehrung. Und ach, am Ende fällt nicht nur der Drache, sondern auch Siegfried den selbst inszenierten Intrigen zum Opfer. Recht so, möchte man meinen. Der Drache als Symbol der dunklen Machenschaften, die aber am Ende den Sieg nicht davontragen. Soweit war die Welt im Mittelalter noch in Ordnung.

Es geht um den Sieg der Herzenskräfte.
Gemälde: Helga Hodosi, Öl auf Leinwand, Privatbesitz.
Michael, der Unterstützer im Drachenkampf
In der Tradition der Bibel taucht der Drache als Lindwurm oder Schlange vor allem im Garten Eden und in der Apokalypse des Johannes auf. Die Auseinandersetzung des Erzengels Michael (Apokalypse) mit dem Drachen stellt im allgemeinen den brachialen Kampf der Engel mit den gefallenen Engeln, dem Bösen dar. Dieser Kampf, der mit dem Rauswurf aus dem Himmel auf die Erde endet, ist ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte, denn fortan müssen die gefallenen Engel um ihre Beachtung unter Menschen kämpfen. Damit wird aber dem Menschen die Freiheit geschenkt, selbst zwischen Gut und Böse entscheiden zu dürfen und nicht mehr blind der himmlischen Ordnung folgen zu müssen. Dieses Thema war schon im Paradies im Zusammenhang mit der Schlange Thema. Aus dem paradiesischen Zusammenhang zu fallen, weil eine Frage nach Erkenntnis gestellt wird, lässt uns unmittelbar aus den nicht zu hinterfragenden himmlischen Verhältnissen in die irdische Freiheit fallen.
Der Widerspruch wird geboren. Die Widersacher-Mächte, verkörpert als Drachen, spielen nun eine wichtige Rolle. Fortan müssen wir ohne selbstverständliche Unterstützung von oben, selber nach dem durch eigenen Wahrheitssinn gefundenen Weltverständnis suchen.
Es geht also nicht wirklich darum, das Böse zu vernichten, sondern es zu verwandeln und zwar zunächst mal in uns selbst. Gelegentlich finden sich auch Darstellungen St. Georgs, dem irdischen Vertreter der Michaelskraft, der im 3. Jh. n. Chr. das Martyrium erlitt, oder des Erzengels Michael im Drachenkampf, in welchen die Lanze nicht so gewalttätig, sondern gleichsam wie eine feine Nadel wirkt, die eher eine Verbindung der Beiden in einer feineren Auseinandersetzung erahnen lässt. Fast wie ein stilles Ringen oder eine Bewegung wie an einem Spinnfaden, der rauf und runter gedreht wird, so mutet diese Geste an.
Dies, so scheint mir, zeigt eher die Begegnung der beiden Gegensätze in unserem Inneren, was zuweilen wie ein inniges Abspüren anmuten kann. Dieses innere Ringen, das eher mit der stillen Verführung kämpft, wenn etwas Unrechtes zu tun, doch so verlockend einfach erscheint im Vergleich zum wahrhaftigen Tun.
Der Erzengel Michael ist der Menschenunterstützer bei diesem inneren Kampf, um den es in unserer Zeit an allen möglichen Stellen geht. In dem zeitgenössischen Bild der ungarischen Künstlerin Helga Hodosi ist der Drache gewissermassen schon nicht mehr im bildlichen Fokus, sondern vielmehr Michael, wie er dem Menschen zur Seite steht, den inneren Drachenkampf zu führen. Die Waagschalen mit denen am jüngsten Tag die Herzen gewogen werden, deuten an, dass es vielmehr um den Sieg der Herzenskräfte geht.
Drachenkräfte sind letztlich Verwandlungskräfte für uns und das Böse ist dafür Notwendigkeit und Hilfe. Wir brauchen die Früchte dieser bösen Kräfte um ganz zu werden und wir brauchen die Balance damit. Auch Rudolf Steiner hat immer wieder betont, dass wir die Widersacher brauchen, um wahrhaft Mensch zu werden. Es geht nicht mehr darum sie zu vernichten oder zu erlösen, sondern ihnen ihren produktiven Platz in einem balancierten geistigen Menschsein zuzuweisen.
Den Drachen in uns bändigen
Nach wie vor gilt: Ein menschliches Mass finden ist die Kunst, wenn das göttliche Prinzip nicht automatisch wirken darf. Denn wir haben die Selbstverständlichkeit des göttlichen Prinzips und seiner Wirkung schlicht verlassen. Wenn wir das Göttliche nicht bewusst ansprechen, wird es nicht mehr automatisch wirksam. Wenn wir den Himmel für unsere selbst eingerührten Katastrophen verantwortlich machen wollen, kommt die kleinlaute Frage, wie Gott das zulassen konnte. Ja eben: Nicht Gott, sondern wir, weil wir den Drachen in uns nicht bändigen wollen, sondern ihm freien Lauf lassen. Wir haben unsere innere Drachenprüfung oft nicht wirklich ergriffen oder verschlafen sie.
In asiatischen Zusammenhängen scheint diese Frage, wenn es um die Symbolkraft des Drachens geht, ganz woanders zu liegen. Hier erscheint der Drache fast ausschliesslich mit Glücksattributen. Er steht für Glück, Stärke, Energie, Erfolg und ist ein beliebtes Sternzeichen, das fast ausschliesslich mit erwünschten Eigenschaften wie Charisma und Anziehungskraft in Verbindung gebracht wird.
Der schwarze Drachen Long, zugleich das chinesische Wort für Drachen, ist in China eher eine Gottheit, die bei Naturkatastrophen wie Stürmen, Überschwemmungen, sintflutartigen Ereignissen angerufen wird.
Es gibt im asiatischen Raum eine Fülle an Drachen, die unterschiedlichste Qualitäten oder göttliche Wesenheiten repräsentieren.
Selbstverzehrer
Ein uraltes Drachensymbol, das sich durch viele Jahrtausende erhalten hat, ist der Ouroboros. Der Name kommt aus dem Griechischen und bedeutet: Schwanzverzehrender. Das Symbol beschreibt eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beisst und dabei einen Kreis entstehen lässt. In manchen asiatischen Darstellungen können es zwei Drachen sein, die sich gegenseitig in den Schwanz beissen und den Kreis bilden, woraus sich letztlich das Yin-Yang-Zeichen gebildet haben soll. Die älteste Darstellung eines Ouroboros auf einer Amphore ist chinesischen Ursprungs: 5000–3000 v. Chr. aus der Yangshao-Kultur.

Abbildung aus: Clavis Artis, Rabbi Zoroaster
Dieses Symbol ist von den Ägyptern über die Römer bis zu uns bekannt gewesen und wurde unterschiedlich genutzt als Symbol für Himmel und Erde, Anfang und Ende, die Unendlichkeit, Mikro- und Makrokosmos, Alles ist eins – als Wahrheitssymbol der Ägypter. Bei den Römern als Symbol des Jahreslaufes, denn nach der Häutung kam das neue Jahr. Es hatte fast immer einen kosmischen Bezug und fand Eingang in die alchemistischen Weltsichten. In unser Zeit zum Beispiel hat der Künstler M. C. Escher das Motiv Draak aufgegriffen und seiner Interpretation zugeführt.
Sein Herz ist hart wie Stein
Der männliche Drachen Tannin, arab.: Tinin, wurde im jüdischen Tanach am fünften Schöpfungstag erschaffen. Ein Tannin wird in der Bibel im Buch Hiob als unbezwingbarer weiblicher Drache Leviathan, übersetzt: Der Gewundene- ein grosser Meeressaurier, genauestens beschrieben:
Hiob 41.1: «…wird man nicht schon bei seinem Anblick hingestreckt?» 41.5: «…wer greift ihm in die Doppelreihe seiner Zähne?» 41.11: «…aus seinem Rachen schiessen Fackeln; Feuerfunken sprühen aus ihm heraus.» 41.12: «…aus seinen Nüstern kommt Rauch hervor…», 41.13: «Sein Hauch entzündet Kohlen; eine Flamme schiesst aus seinem Rachen…», 41.16 «Sein Herz ist hart wie Stein und so fest wie der untere Mühlstein.» 41.18: «…trifft man ihn mit dem Schwert, so hält es nicht stand, weder Speer noch Wurfspiess oder Harpune.» 41.19: «Er achtet Eisen für Stroh und Erz für faules Holz.» 41.22: «Auf seiner Unterseite sind spitze Scherben; er zieht einen Dreschschlitten über den Schlamm dahin.» Am Ende werden beide Wesen, männliches wie weibliches, von Gott besiegt. Dies und einiges Mehr wird über Drachen in der Bibel berichtet und scheint eine nicht zu unterschätzende Vorlage für unsere heutigen Drachenvorstellungen zu sein.
Falscher Gott als Drachen entlarvt
In manchen Apokryphen¹, King-James-Bibel, ist auch von Daniel, der später als Daniel in der Löwengrube berühmt wurde, die Rede, wie er den König Cyrus überzeugt, sich von der Anbetung eines Drachens abzuwenden. Daniel sagte vorher, den Drachen vor seinen Augen ohne Schwert oder Lanze umbringen zu können, indem er ihm ausgeklügelte, vergiftete und mit Teer versehene Kuchenbatzen backte, sie ihm verfütterte und den Drachen vor Cyrus’ Augen von innen explodieren liess. Dies belegte folglich, dass es sich bei dem Drachen keineswegs um einen Gott, den man anbeten müsse, gehandelt haben konnte. Cyrus konvertierte daraufhin überzeugt zum Judentum. Daniel hatte es geschafft den falschen Gott als Drachen zu entlarven.

Foto: Hendrikje Arzt
Kulturelle Zusammenhänge
Schliesslich dürfen die selbstgebauten Flugdrachen nicht unerwähnt bleiben, die durch das Streichen des Windes über seine Segelfläche in der Luft gehalten werden und die Menschen zu allerlei Kreativität anregen. Im chinesischen Weifang, das als Geburtsort des Drachen betrachtet wird, gibt es traditionell jährlich das grosse mehrtägige Drachenfest, wo unter anderem spektakuläre, bunte Flugdrachen zum Einsatz kommen.
Nicht zu vergessen die relativ neue Entwicklung des Kitesurfens, welches diesen Spass mit einem über Strippen verbundenen, mitfliegenden Menschen zu akrobatischen Höhepunkten über dem Meer verführend steigert. So gibt es mit den Drachen viele Anstösse für geistige Saaten und Ernten in kulturellen Zusammenhängen. Vom Computerspiel, Kinderspielzeug bis zur Liederwelt erregt das Drachenmotiv Aufmerksamkeit. Das Lied Puff the magic dragon lived by the sea nach einem Gedicht von Leonhard Lipton war in meiner Jugendzeit ein vielgesungenes Lied für eine romantische Lagerfeuerstimmung. Der Drache symbolisiert eher die unbedarfte kindliche Zeit, bei der die Vorstellungskraft noch magisch ist. Diese vergisst der Mensch beim Erwachsenwerden leicht, beziehungsweise belebt sie oft nicht mehr. Der kleine Junge Jackie Paper, der mit dem Drachen befreundet war, lässt diesen als Erwachsener traurig zurück, besucht ihn nicht mehr und der Drache versauert alleine in seiner Höhle.
An diesen Umstand scheint das Gedicht von Gregor Arzt anzuknüpfen:
St. Michael über den Wurm
Keltenschanze Krumpenschloss bei Hammereisenbach, 11.10.2015
Unter dem Schwange
Was warme Drachengeburt ist,
Ich helf mit meiner Stange,
Dass alle kommen ans Licht.
Ich segne die Kleinen
Für ihren Weg,
Was Deinen Würgereiz angeht
Ich find ihn reichlich spät.
Du hättest schon früher drauf kommen können,
Dass alles kriechend Getier
Ist meinem Schutze anbefohlen,
Ich habs gern im Visier.
Achte gut den schlüpfrigen Wurm,
An ihm ist nichts verwerflich.
Einst wird er gern auch nagen rein,
Was an Dir unverderblich.
Siehe auch Gregor Arzt Lasst uns nicht länger warten – Verse für einen Bund von Erde und Mensch, Verlag Urachhaus, 2023
Anmerkung
1 Apokryphen – religiöse Schriften jüdischer und christlicher Herkunft aus der Zeit zwischen etwa 200 vor bis zirka 400 nach Christus, die nicht in einen biblischen Kanon aufgenommen wurden.
Autorin
Hendrikje Arzt
D-10717 Berlin
wanta2@hotmail.de
undinenhof.de
freieshomoeopathiekolleg.de
Heilpraktikerin, Homöopathikerin,
Traumatherapeutin, Geomantin.
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