Wenn die Seele gehen will
Sie kam gerade aus dem Krankenhaus zurück. Das Herz war schwach. «Dennoch habe ich den Arzt gebeten, Dir keinen Herzschrittmacher einzusetzen», sagte ich. «Gut so! Das wäre doch viel zu früh», bestätigte meine Mutter. Sie war Anfang 2003 in ihrem 93. Lebensjahr. Der Arzt hatte meine Sicht der Dinge geteilt. Auch er hatte viele Menschen dahinvegetieren sehen, während die Seele gehen wollte, der Herzschrittmacher aber weitertickte.
Sie dachte nicht ans Sterben. Das war nicht ihre Art. Ihr Geist war immer aktiv, wenn sie auch schon lange im Rollstuhl sass. Sie war eine Pfarrerstochter und eine der ersten Frauen, die in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts Theologie studiert hat. Wegen der Naziherrschaft in Deutschland studierte sie in Wien. Das war eine herrliche, eine selige Zeit, nach der sie sich immer wieder zurücksehnte. Es folgten Heirat, zwei Kinder, der Krieg, der junge Hausstand fiel den Bomben zum Opfer, Scheidung und eine Karriere als Politikerin mit sozialem Engagement. «Da muss man doch was tun!» war immer ihre Devise. Nun lebte sie in einem städtischen Seniorenzentrum, das sie selbst konzipiert hatte. Dort war sie gut versorgt und hatte immer noch etwas mitzureden.
Am 6. März kam der Anruf. Sie sei bewusstlos, es sei ernst. Ich hatte die Nacht gefiebert und kaum geschlafen. Ich wohne 350 km entfernt. Was tun? Sie sei gut versorgt, versicherte man mir; eine Freundin, Ärztin, sei oft bei ihr. Auch nach Tagen war für mich an Reisen nicht zu denken. Was tun? Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich in dieser schweren Zeit nicht bei ihr war. Ich bat die Wesenheiten der hohen Ebenen um Rat. Sie rieten mir von einer Reise dringend ab und ermutigten mich, ihre Seele in diesen Tagen zu begleiten.
In ihrem Sinne
Ich bin es gewohnt, nach innen zu horchen und aufzuschreiben, was ich wahrnehme. Das kenne ich von der Aktiven Imagination, wie sie C. G. Jung gelehrt hat. So konnte ich mit ihrer Seele in Resonanz gehen und ihren letzten Weg begleiten.
Nun ist eine solche Zwiesprache sehr intim und sensibel. Ich fragte mich, ob ich das hier öffentlich machen darf und soll. Wenn ich an die Atmosphäre dieser Begegnungen denke, dann war ich verwundert, dass unser Kontakt gar nicht der von Mutter und Tochter war, die sich nun in grossem Leid für immer verabschieden. Nein, es war ein Austausch zweier Seelen, die sich auf gleicher Ebene begegnen und ein Stück miteinander gehen. Es war irgendwie jenseits jeder Inkarnation, sozusagen ein inkarnationsloser Zustand. Nur ab und zu gab es Einbrüche aus der Dimension der Inkarnation: die Sorgen, Ängste, Zweifel als Tochter. Ich habe zugehört, ab und zu etwas gefragt, aber oft nur durch ein kurzes «Ja» zu verstehen gegeben, dass ich noch da bin. Sie wollte sich mitteilen und war erleichtert, dass jemand Zeuge ihres Erlebens wurde.
Wenn ich mir meine Mutter vorstelle: Sie war sehr mitteilsam und nach aussen orientiert. Sie war Theologin. Es war ihr immer ein Anliegen, tiefere Wahrheiten und Einsichten mitzuteilen und zu vertreten: aufbauend, klärend und ermutigend zu wirken. So mag es durchaus in ihrem Sinne sein, Menschen an dem Erleben ihrer letzten Wegstrecke teilhaben zu lassen und ein wenig den Schleier zu lüften, der dieses Hinübergehen verhüllt. Wenn es auch immer ein Mysterium bleiben wird.
Der Traum träumt sich ins Licht
Es war schon der 12. März. Um Mitternacht machte ich mich bereit, mit ihrer Seele in Resonanz zu gehen. Irgendjemand hatte mir eine weisse Rose geschenkt. Eine Kerze gab ihr Licht, etwas Räucherwerk war im Raum.
12.03.2003 Mitternacht
«Du bist im Hinübergehen, ich möchte Dich nicht stören. Aber wenn Du sprechen möchtest, gern höre ich Dir zu.»
«Leicht ist es hier, ich schwebe. Alles Schwere weicht von mir. Ich schwebe im Raum. Unter mir mein Körper. Manchmal gehe ich hinein, um ihn gleich wieder zu verlassen. Wie ein Gefängnis war er mir, aber sicher. Im Schweben ist alles unsicher. So frei zu sein, das kenne ich nicht; gut, dass der Körper noch da ist. Aber ich gehe nicht zurück, ich will schweben. Hell ist es hier.»
«Hast du erwartet, dass ich zu Dir komme?»
«Aber nein, ich komme ja zu Dir. Deine Tür ist offen. Kerzen, Musik, eine weisse Rose, Duft. Ich komme zu Dir. Deine Liebe, Deine Fürsorge helfen mir. Ich schwebe. Wohin? Ins Licht, sagst Du mir immer wieder. Das hilft. Du bist mir Zuflucht in diesen Tagen. Danke für Deine Sorgfalt.
Sterben ist leicht im Vergleich zum Leben. Wohin geht die Reise? Endlich kann ich reisen wohin ich will. Ich war schon in Wien: Stephansdom, Votivkirche – und zurück in meinen Körper, aber gleich wieder hinaus. Der Körper gibt Orientierung; deshalb gehe ich hinein wie nach Hause: Das kenne ich, da weiss ich Bescheid. Bald aber wird es zu eng, durch das Atmen spüre ich Enge.»
«Hast Du Schmerzen?»
«Nein, es ist kalt drinnen im Haus und eng, eng, eng. Ich erinnere mich an das Schweben, dann will ich hinaus, bin gefangen, eng, eng.»
«Wie gehst Du hinein, wie hinaus?»
«Ich atme mich ein, ich atme mich aus. Eng, eng, ich presse mich raus, eng, eng. Schleim ist da, eng, eng, ich presse mich raus.»
«Ist das beschwerlich?»
«Es ist Rhythmus, wie Wellen am Meer. So atmen wir uns immer ein und aus. Ja, unser Wesen kehrt ein und aus, das ist der Rhythmus des Lebens. Wir pulsieren im All, sozusagen. In diesem Ein- und Ausatmen pulsieren wir mit unserem Körper und der Luft: Leicht, unbewusst bewegen wir uns in Körper und Luft. Wie die Welle am Strand kommt und geht, kommt und geht, kommt und geht. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen – leicht ist der Rhythmus im Schlaf. Eng wird es beim schnellen Laufen und beim Sterben: eng, eng, ein Kampf. Du wirst an den Strand geworfen, die Welle nimmt Dich nicht einfach wieder zurück; wenn Du Glück hast, kommt sie wieder. Sonst japst Du wie ein Fisch, der ans Land geworfen wurde. Eng, eng.»
«Bist du jetzt im Körper?»
«Ja, eng, eng.»
«Möchtest Du hinaus?»
«Es geht nicht um Wollen. Es geschieht wie die Brandung am Meer, eine stockende Brandung sozusagen, eng, eng.»
«Möchtest Du weitersprechen?»
«Nein. Eng, eng. Ich wohne noch ein wenig aus Gewohnheit im Körper. Eng, eng. Und ich danke Dir und verabschiede mich mal und ich komme wieder, wenn ich darf.»
«Aber gern. Ich bin da.»
12.3.2003, 05 Uhr morgens
«Sei gegrüsst, möchtest Du sprechen? Wo bist Du, was nimmst Du wahr?»
«Seltener gehe ich in meinen Körper zurück.»
«Hast Du Empfindungen in Deinem Körper und spürst Du noch den schweren Atem?»
«Kaum. Es ist dieses sichere Gefühl, im Körper zu sein. Ich habe Form in ihm, draussen schwebe ich, formlos.»
«Ist es Dir lästig, wenn ich frage?»
«Nein, es hilft mir. Draussen habe ich keine Form, ich bin so gross, ich dehne mich aus.»
«Ist das vielleicht wie ein Sich-Recken nach langem Schlaf?»
«Anders. Wie Weite; sie ist so unendlich, wo ich bin – wo ist meine Form?»
11 Uhr
«Ich bin da, sei gegrüsst. Wo bist Du?»
«Die Enge ist überwunden. Ich habe sie durch Enge überwunden. Ein Zuviel an Enge erfordert Entschlossenheit.»
«Ja.»
«Auf dem Atem bin ich gesegelt wie auf einem Schiff durch eine Felsenschlucht.»
«Ja.»
«Sie war eng die Schlucht, dunkel, endlos.»
«Ja.»
«Niemals würde sie enden. Aber am Ende war Licht: Das ewige Licht geht da herein, gibt der Welt ein‘ neuen Schein; es leuchtet mitten in der Nacht und uns zu Lichtes Kindern macht. Kyrieleis.»
«Dein liebstes Weihnachtslied.»
«Ich war geblendet, ich löse mich da hinein, sehe meinen Körper und ich bin im Licht. Auf dem Atem gehe ich hinein in den Körper, mit dem Atem gehe ich hinaus ins Licht. Ich gehe hinein und hinaus, die Enge ist verschwunden. Ich bin Geist. Nichts hindert mich, bedrängt mich. Ich bewege mich frei im Raum.»
«Ja.»
«Der Körper ist wie mein Haus mit vielen offenen Fenstern. Wie ein Wind schwebe ich ein und aus. Das Haus ist leer. Ich wohne nicht mehr darin. Wie das Haus der Kindheit, die lange vorbei. Langsam wird es zur Fremde, Regen und Wind anheimgegeben und dem Verfall.»
«Ja.»
«Heimat und Fremde zugleich. Ich bewege mich leicht – wie lange habe ich das nicht gekonnt! Es ist mir fremd.»
«Ja.»
«Ich bin der Wind. Hörst Du mich an Deinem Fenster, in den Bäumen?»
«Ja. Es stürmt schon den ganzen Tag.»
«Immer kehre ich zurück zu meinem Haus, gehe ein und aus mit dem Atem, klopfe nur noch an mit dem Atem. Das Haus ist leer. Wind, wohin wehst du?»
13:30 Uhr
«Brauchst Du mich?»
«Ich gehe. Ich schliesse die Tür. Verweile, wende mich um. Es braucht Zeit. Hier sind die Schritte langsam.»
16 Uhr
«Ich bin da, ich höre. Wo bist Du?»
«Ich bin in Frieden. Ich gehe einen langen Weg. Ich bin allein, ich bin leicht. Es ist hell. Ich schaue nicht zurück. Ich habe keine Eile. Ich fühle Verwandtes um mich. Ich bin in meinem Eigenen. Ich bin weder jung noch alt, weder kalt noch warm, ich bin einfach: Ich bin.»
«Eben höre ich am Telefon: Dein Körper beginnt zu fiebern. Bist Du noch oder wieder in Deinem Körper? Bilde ich mir ein, was Du sagst? Stimmt es so?
Oder was stimmt überhaupt?»
«Der Körper verbrennt sich selbst, wenn es zu Ende geht. Deshalb ist es nicht gut, das zu verhindern. Was Deine Zweifel angeht, zweifle. Das Wissen auf der Erde ist Stückwerk. Hier fallen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zusammen. Deswegen bin ich gegenwärtig, zukünftig und vergangen. Die Dimension ist anders.»
«Musst Du leiden?»
«Nein. Der Körper arbeitet noch, der Geist ist frei. Die Seele atmet auf. Das irdische Ende wird von Euch nicht verstanden, es ist elementar: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Alles kehrt heim, arbeitet an der Heimkehr.»
«Erwartest Du, dass ich mich jetzt zu Dir auf den Weg mache? Hast Du meine Blumen noch wahrgenommen, die ich Dir geschickt habe? Lauter Fragen und Zweifel sind in mir.»
«Es ist das Leben. Massstäbe des Lebens. Ich habe die Messlatte weggeworfen. Du bist da. Frage Dich doch einmal, wenn Du an meiner Stelle wärst, was würde Dich freuen? Ein Sohn, eine Tochter, die so Deinen Weg begleitet, wie Du es tust? Ich stehe in Deiner Schuld. Du hast mir viel Kraft gegeben, oft zu viel. Nun musst Du für Dich sorgen. Sei gut zu Dir.
Du bist da. Keine Minute habe ich Dich vermisst. Deine Gegenwart ist die des Geistes. Der weht, wo er will. Ich muss Dich trösten, nicht Du mich. Und ich werde es tun. Bedenke, ich bin frei und nicht mehr die Gefangene meiner Massstäbe, Messlatten, Gedanken, Gefühle. Sei froh heute. Denke an mich in Frieden, nicht mit Verpflichtung.»
23:30 Uhr
«Ich habe ein paar persönliche Dankesbriefe geschrieben an Deine Weggefährten. Wie geht es Dir? Wo bist Du, was erlebst Du?»
«Ich gehe den Weg leicht. Der Körper verbrennt. Du bist bei mir. Deine Herzlichkeit webt einen goldenen Schein um Deine Gestalt. So sehe ich Dich. Sei gesegnet.»
«Danke. Ich freue mich.»
13.03.2003, 05 Uhr
«Ich bin da. Ich höre. Wo bist Du?»
«Ich segne das Zeitliche. Ein schöner Ausdruck.»
«Ja.»
«Stille ist in mir und Ausatmen. Gefährten zeigen sich, sind neben mir und um mich. Sie haben keine Gestalt, sind nur spürbar verwandt. Worte reichen nicht aus, diese Gefilde zu beschreiben. Am ehesten würde ich sagen: Der Ton der Stille. Die Sinfonie des Schweigens.»
«Ja.»
«Ich gehe, Ihr bleibt zurück. Ich gehe nicht, Ihr bleibt nicht zurück. Das All ist eins. Auch Ihr seid in der Einheit. Stell Dir vor, wir sind Luft. Wo beginnst Du, wo ende ich? Stell Dir vor, wir sind Wasser. Wo beginnst Du, wo ende ich? Stell Dir vor, wir sind Feuer. Wo beginnst Du, wo ende ich? Das Wesen der Einheit ist grenzenlos, all-einig.»
«Ja.»
«Der letzte Schritt ist leicht: Ich bin in den neuen Gefilden. Die Kerze, die weisse Rose, ich danke Dir. Heiter sollst Du Deinen Weg gehen. Adieu.»
Die hohen Wesenheiten hatten mir bedeutet, als ich sie für die Begleitung auf diesem Weg um Orientierung bat: «Deine Mutter geht. Lass sie gehen in Frieden. Deine körperliche Anwesenheit wäre weniger hilfreich: Ängste und Sorgen würden Überhand nehmen. Sei anwesend im Geiste. Dein Geist, kann er nicht sein, wo er will?»
Praxis-Tipp von Renate Siefert
Magst Du das Zuhören und das Horchen nach innen kultivieren? Vielleicht, indem Du Dir einen festen Termin und eine Umgebung mit ein paar vertrauten Dingen dafür einrichtest. Welches wäre Deine Zeit: der späte Abend, der frühe Morgen? Heisse Dich willkommen, immer mal wieder.
Autor
Renate Siefert
D-64385 Reichelsheim
renatesiefert@web.de
Heilpraktikerin, Homöopathie, Radionik, Autorin von Der Weg der Homöopathie. Warum sie wirkt – wie sie heilt, Verlag Neue Erde, 2016
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