Gottlos beten

Lassalle-Haus Niklaus Brantschen Zen Meister
Blick aus dem Lassalle-Haus, Bad Schönbrunn Edlibach ZG: Nach dem Begründer Niklaus Brantschen ist Mystik menschenmöglich. Foto: Daniel Linder

Viele Wege führen zur Mitte des Herzens und wieder zurück in die Welt. Allen gemeinsam ist, dass sie von der Oberfläche in die Tiefe, von der Zerstreuung zur Sammlung, vom Vielen und Vielerlei zum Einen führen.

… das Nicht-Erzwingen-Können des Wesentlichen – eine Haltung, die sich paradox so formulieren lässt: nichts wollen, aber das mit ganzem Herzen!

Fragen wir nach dem »Geheimnis« von Meister Eckharts kraftvollem Wirken, so finden wir bei Josef Quint eine Antwort, wie sie kaum treffender sein könnte: »Man hat von Eckhart gesagt, es mache seine Grösse aus, dass er eigentlich nur einen einzigen Gedanken habe, einen Gedanken zwar, tief und erhaben genug zum Leben wie zum Sterben.« Dieser Gedanke, besser, diese Einsicht, die der Meister in grossartiger Eintönigkeit variiert, lautet: Es gibt »etwas« in der Seele, das ohne Anfang und ohne Ende ist. Ein Schüler Eckharts, Johannes Tauler, sagte über den Meister: »Er sprach aus der Ewigkeit, und ihr versteht es nach der Zeit.« 

Meister Eckhart wurde von päpstlicher Seite bescheinigt, dass er mehr wissen wollte als nötig. Er wollte nicht nur mehr wissen, er wollte mehr sehen, und vor allem tiefer sehen. Er wollte das »Etwas« in der Seele erfahren.

Das »Etwas« ist allen zugänglich. Mystisches Erkennen kennt nur eine Voraussetzung, nämlich die, dass der Mensch und die Wahrheit eins sind: »Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen.«

Gelassenheit

In der 28. Predigt charakterisiert Eckhart mit meisterlicher, kaum überbietbarer Präzision den Vorgang des Verstehens. Es ist nicht gegenständlicher, sondern – wie soll ich sagen? – in-ständlicher Art. Begeistert ruft Eckhart von der Kanzel: »Wie wunderbar: draussen stehen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und zugleich das Geschaute selbst sein, halten und gehalten werden – das ist das Ziel, wo der Geist in Ruhe verharrt, der lieben Ewigkeit vereint.«

Wo Draussen und Drinnen, Schauen und Geschautes, Subjekt und Objekt sich vereinen, wird tiefes Verstehen möglich, eröffnet sich der Blick in das eigene Wesen und in das Wesen aller Dinge. Dieses Miteinander von Schauen und Geschautem ist Resonanz in höchstem Mass.

Einheit, Verschiedenheit, Einzigartigkeit: So lautet die Formel, die dem tieferen Verstehen, dem Verstehen von innen her, zugrunde liegt. Mit anderen Worten, mit den Worten Eckharts gesagt: »Schauen und das Geschaute selbst sein« macht wahres Erkennen möglich. Ein Erkennen, das über das übliche Verstehen weit hinausgeht. Es ist Mystik »par excellence« und ermöglicht das Gebet, das ohne Worte auskommt.

In den Reden der Unterweisung ermahnt Eckhart seine Mitbrüder: »Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsste sich noch mehr lassen.« Der Prozess des Loslassens hört nie auf. So stelle ich immer wieder fest, dass Menschen, die ernsthaft zum Beispiel Zen praktizieren, gar nie auf die Idee kommen, diese Praxis aufzugeben. Es geht weiter, lebenslänglich. Bis zum Tod.

Wahre Unendlichkeit

Gott ist inwendig in uns. Er ist überall – und er ist nirgends. Bei Meister Eckhart haben wir gesehen, dass er nicht räumlich oder zeitlich festzulegen, sondern ort- und zeitlos ist. Ähnlich ist nach buddhistischer Auffassung die »Leere-Unendlichkeit«, die dem entspricht, was wir »Gott« nennen, nicht zu verorten. Was »leer« ist, ohne Form und Gestalt, kann man nicht fassen, nicht festlegen, nicht besitzen – und nicht verlieren. So gesehen kann ein Zen-buddhistisch geprägter Mensch gar nicht gottlos sein oder werden. Die alles entscheidende Frage im Zen lautet: Wie kann ich Leere, wie kann ich das, was unendliche Möglichkeiten in sich hat, erfahren und in einem langen Prozess der Übung in meinem Leben konkret werden lassen? Die Frage nach der Existenz Gottes tritt demgegenüber zurück.

Die Frage nach Gott verweist uns in die »wahre Unendlichkeit«, die dem »inneren Schauen« der Mystik zugänglich ist. Dieses »Schauen« tut Not – heute mehr denn je. Und es ist allen möglich. Es gibt Mystik mit Gott und ohne Gott.

Mit ganzem Herzen

Wenn im Zen von »Glauben« die Rede ist, wird damit genau die Überzeugung ausgedrückt, dass im Grunde alles gut ist. »Jeder Tag ein guter Tag«, lautet ein bekanntes Zen-Wort. Die Philosophie sagt es so: Alles, was ist und soweit es ist, ist gut. Und in der Bibel lesen wir bereits auf den ersten Seiten, dass alles gut, ja sehr gut ist. Warum aber, so stellt sich die Frage, warum können wir dieses Gutsein nicht erfahren, warum gibt es bei mir und in der Welt Angst und Unsicherheit, warum finden wir nicht den inneren Frieden?

Mit dem richtigen Hinweis zur rechten Zeit hat mich mein Zen-Lehrer aus der Verbissenheit heraus zum richtigen Zweifel und zur gelassenen Entschlossenheit geführt. Der »Grosse Glaube« vertiefte sich, der Zweifel liess nach und die Entschlossenheit bekam die Qualität, die ich heute in dem Satz zusammenfasse: »Nichts wollen – aber das mit ganzem Herzen.«

Kraftvolle Gemeinschaft

»Wer nicht allein sein kann, hüte sich vor der Gemeinschaft.« Dieses Wort des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer bringt das Verhältnis zwischen dem persönlich und dem gemeinsam gelebten Glauben auf den Punkt.

Wer auf der Flucht vor sich selbst bei der Gemeinschaft einkehrt, der missbraucht sie zum Geschwätz und zur Zerstreuung, und mag dieses Geschwätz und diese Zerstreuung noch so geistlich aussehen. In Wahrheit sucht er gar nicht die Gemeinschaft, sondern den Rausch, der die Vereinsamung für kurze Zeit vergessen lässt und gerade dadurch die tödliche Vereinsamung des Menschen schafft. 

Das Merkmal für Einsamkeit (nicht zu verwechseln mit Vereinsamung!) ist für Bonhoeffer Schweigen. Schweigen und eine kraftvolle Stille. Alleinsein, Stille pflegen einerseits, und in Gemeinschaft stehen andererseits, sind für Bonhoeffer gleichursprünglich und bedingen sich gegenseitig. Für einen spirituellen Weg ist eine kraftvolle Gemeinschaft, die uns trägt und zu deren Gelingen wir selbst beitragen, unerlässlich.

Ruf nach Mystik

Menschengemacht sind auch Religionen. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern sind vielmehr menschliches, oft allzu menschliches Werk. Im Namen der Religion wurden Dome und Tempel gebaut – und Kriege geführt. Religionen prägen und vermitteln wegweisende Weltanschauungen sowie moralische Werte – und begünstigen Engstirnigkeit und Traditionalismus. Gruppen und einzelne Menschen lassen sich, zu ihrem Wohl aber auch zu ihrem Schaden, von der Wiege bis zur Bahre in ihrem Jahres-, Wochen -und Tagesrhythmus durch Religionen bestimmen. Sie richten nicht nur Speisezettel und Kleidung nach religiösen Anordnungen, sondern auch die Form des (partnerschaftlichen) Zusammenlebens. Religionen haben die Tendenz, zu verkrusten und zu einem Korsett zu verkommen. Heute stossen Religionen an Grenzen. Der Ruf nach Mystik wird immer lauter. 

Mystik, abgeleitet vom griechischen Wort mystikos, meint ganz einfach dies: schauen, erfahren, was dem äusseren Auge verborgen ist, was nicht in Worte zu fassen, was aber höchst lebendig und wirklich ist.

Wollen wir glücklich sein?

Die Spiritualität, die ich meine, darf nicht in der Innerlichkeit steckenbleiben, sondern muss sich äussern. Wer hofft, an der Welt vorbei zu sich selbst (und zu Gott) zu gelangen, wird nie zu sich finden, denn Selbstfindung und Weltfindung gehen zusammen wie Einatmen und Ausatmen. Wer nur einatmet, erstickt, wer nur ausatmet, verliert sich. Echte Spiritualität erschöpft sich nicht im Privaten. Sie mischt sich ein und überwindet das heillose Entweder-Oder-Schema. Also nicht draussen oder drinnen, sondern draussen und drinnen, nicht Ich oder die Welt, sondern Ich und die Welt, nicht Kontemplation oder Aktion, sondern Kontemplation und Aktion!

Wir dürfen das Leben und Überleben auf der Welt, das Schicksal des Planeten Erde, das »gute Leben für alle« nicht den Religionen überlassen. Sie haben ihren Beitrag geleistet – und leisten ihn weiterhin. Doch die Religionen stossen an Grenzen. Hier ist eine spirituell gegründete Ethik angesagt. Ob wir zu einer Religionsgemeinschaft gehören oder nicht: Wir sind alle gefragt und gefordert. Im Grunde geht es um die Frage, ob wir auf Kosten der Lebensqualität um jeden Preis quantitatives Wachstum wollen. Ob wir mehr dem Sein oder dem Haben Raum geben wollen. Es geht um die Frage, die ganz und gar nicht banal ist: Wollen wir glücklich sein?

Schwindel

Klugheit wird oft missdeutet. Es ist deshalb angezeigt, den Etikettenschwindel, der mit »Klugheit« betrieben wird, aufzudecken. So lässt sich dann besser darstellen, was Klugheit meint, und warum ihre Rolle für ein »brauchbares Leben« so wichtig ist. 

Erster Schwindel: Klug ist, wer Rezepte befolgt. 

Die Verunsicherung scheint heute gross zu sein. Viele fragen sich: Wo finde ich in der sogenannten postmodernen Beliebigkeit meinen Ort? Das ist die Stunde der Rezepte. Die Stunde der guten, altbewährten Regeln und moralischen Vorschriften. Diese werden von aussen an uns herangetragen und sollen uns vom eigenen Denken befreien: Klug ist, wer »gehorsam« ist, und nicht, wer selbst denkt.  

Zweiter Schwindel: Klug ist, wer der Mode folgt. 

In letzter Zeit mache ich oft folgende Beobachtung: Eine Nachricht wird nicht als wahr oder unwahr, richtig oder falsch eingestuft, sondern als »weltfremd« oder »modern«, als »reaktionär« oder »aufgeklärt«, als »konventionell« oder »zeitgemäss«. Wahr ist, was »in« ist, was gang und gäbe ist«, und nicht, was Sache ist. Klug ist dementsprechend, wer der Mode folgt, und nicht, wer sieht, was wirklich ist.

Dritter Schwindel: Klug ist, wer alles weiss. 

Das Bedürfnis nach Sicherheit führt nicht wenige dazu, im Wissen allein das Heil zu suchen. Klug ist demnach, wer durch Strategie und Planen alles, auch die Zukunft, fest im Griff hat und nicht, wer sich überraschen lässt und auch scheinbar Unmögliches möglich zu machen versteht. 

Was aber zeichnet einen klugen Menschen aus und wie erkennt er, was im Allgemeinen gut und was für ihn persönlich das Beste ist? Nun, es gibt einen Ort in mir, wo ich mit Gewissheit weiss, wer ich bin und was ich zu tun und zu lassen habe. Dieses Mitwissen (lat. conscientia) oder Gewissen gibt präzise wieder, was gemeint ist: Im Gewissen habe ich einen Verbündeten, vorausgesetzt, ich bin still und achtsam genug, seine Stimme zu vernehmen. Ohne Schweigen, ohne Stille und Einkehr, kurz: ohne spirituelle Praxis geht es nicht.

Lieben, weil wir Menschen sind

Grosse Verlegenheit! Medien sind zwar voll Liebe. Doch Magazine und Illustrierte sind im Allgemeinen nicht in der Lage oder nicht willens, die tiefere Dimension der Liebe auszuloten. Was wahre Liebe meint, erfahren wir weniger von Ratgeber-Ecken in Zeitschriften als von weisen Philosophen und spirituellen Lehrerinnen und Lehrern.

Wenn ich die Arbeit – und nur die Arbeit – in die Mitte des Lebens stelle und alles andere inklusive Liebe bloss darum herum organisiere, verpasse ich das Leben und verliere die Fähigkeit zu lieben – und geliebt zu werden.

Ohne tiefere Sicht der Dinge und Menschen, ohne Einkehr, ohne Besinnung, kurz: ohne Spiritualität ist Liebe nicht zu haben. Etwas salopp gesagt: Wer mit Spiritualität im weitesten Sinne nichts am Hut hat, sollte nicht überrascht sein, wenn ihm oder ihr Liebe nicht gelingt.

Lieben lernen wir, wenn wir vom Sehen zum Schauen, vom Hören zum Horchen, vom Tasten und Ergreifen zum Ergriffen-sein gelangen. Wenn wir also die Sinne radikal ins Innere wenden, wenn wir Innerlichkeit pflegen.

Veröffentlichung der Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Lassalle-Haus Niklaus Brantschen Gottlos beten

Niklaus Brantschen

Gottlos beten
Eine spirituelle Wegsuche

Patmos Verlag, 23.08.2021
6. Auflage 2022
Fester Einband
128 Seiten

ISBN: 978-3-8436-1335-4

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