Die Seherinnen von Delphi
Viele, viele sind unterwegs auf der heiligen Strasse hinauf zum Tempel des Apollo. Die Reiseleiterin hat Mühe, unsere kleine Gruppe mit Informationen zu erreichen, der Lärm ist gross: Das Orakel von Delphi – auch Könige suchten es auf – die Pythia auf einem Schemel – heisse Dämpfe – Menschen am Scheideweg – drängende Fragen – fragliche Antworten – Opfergaben werden dargebracht. Nein, wer Pythia ist, weiss man nicht, überhaupt weiss man wenig, was geschah an diesem Ort. Im Tal gibt es da noch die heilige Quelle – nein, nicht zugänglich – und den Tempel der Athena Pronaia, der Göttin, die in die Zukunft sehen kann.
Warum ich ausgerechnet hier mit einer Gruppe unterwegs sein muss, frage ich die Göttin. Sie schweigt. Aber ich habe plötzlich nur noch eine Idee: Ich werde das Fläschchen, das ich aus diesem Grunde bei mir habe, mit dem Wasser der heiligen Quelle, der Kastalischen Quelle, füllen. Und das geschah, auch wenn ich darüber die Reisegruppe fast verloren hätte.
Quellen an heiligen Orten bewahren altes Wissen, auch wenn das Heiligtum und der Brauch längst den Zeiten und der Geschichte anheimgefallen ist. Ich werde dieses Wasser resonant verreiben und in diesen stillen und meditativen Stunden mich mit dem Geist von Delphi und den Seherinnen verbinden und auf die Botschaft der Quelle warten.
Die Kastalische Quelle von Delphi – Resonante Verreibung an Ostern 2009
Die Verreibungsschale, gefüllt mit Milchzucker, ist bereit. Ich gebe einige Tropfen Wasser der Kastalischen Quelle hinein. Ich nehme drei Tropfen auf die Zunge und bekomme ganz heisse Hände. Ich beginne die Verreibung und werde vier Stunden ungestört der Botschaft der Quelle lauschen.
Die Quelle spricht
Dies ist die Quelle der Reinheit, du wirst sie nur ergründen, wenn du reinen Herzens bist. Nähere dich in Ehrfurcht, Stille und Erwartung. Sei still und ohne Eile. Es braucht diese Haltung, um hinter die Dinge zu sehen. Trete ein, sei willkommen. Wir nehmen dich in unsere Mitte und führen dich ein in die Geheimnisse des Ortes. Deine Fragen werden Antwort finden. Aus der Quelle zu trinken ist wenigen vorbehalten. Du hast es gewagt – nun schau. Wir sehen das Unsichtbare, hören das Unhörbare. Folge uns und du wirst sehend.
Wir sind die Frauen des Heiligtums, die Dienerinnen der Götter, die Seherinnen, ausersehen, den Menschen zu dienen in ihrer Blindheit. Die Sehergabe ruht in unserem Schoss. Die Kraft der Frau liegt zwischen den Lenden. Hier entsteht Leben. Die Sehergabe gleicht der Empfängnis: Du gibst dich hin und es geschieht. Lass geschehen, gib dich hin. Der Gott spricht und du erkennst sein Wort. Sanft wie ein Abendwind sei in diesen heiligen Räumen; eine mädchenhafte Zartheit sei um dich; so ereignet sich Zuneigung.
Diese Quelle macht uns empfänglich. Sie weckt in uns die Gabe der tiefen Schau. Wir Seherinnen bedürfen des Wassers; wir tragen schwer an der Bürde der Sehergabe. Deshalb bedürfen wir der Gemeinschaft: Keine von uns soll allein sein mit dem, was sie trägt. Neu wird jeder Tag mit der Morgenröte. Wir benetzen Stirn und Hände mit dem Wasser der Quelle.
Wir schöpfen das Wasser mit blossen Händen, trinken und reichen uns die Hände zum morgendlichen Gruss. So wissen wir uns erfrischt und geborgen.
Folge uns nun die heilige Strasse hinauf zum Tempel. Wir gehen ohne Eile, so, als wollten wir nie ankommen, aber immer auf dem Weg sein. Unsere Schritte tragen uns durchs Leben. Wir gehen bedacht und gelangen zum Tempel. Dunkel ist der Raum. Nur das heilige Feuer brennt schon dort, wo der Erdspalt sich auftut und Rauch emporsteigt.
Eine von uns ist heute ausersehen, Orakel zu sprechen. Sie spürt eine Ohnmacht in ihrem Kopf und wankt zur Stelle des Feuers. Wir halten sie mit der Kraft unseres Geistes, dass sie nicht fällt und der Erdspalt sie verschlingt. So erreicht sie sicher den Dreifuss, den Schemel, der ihr Platz ist für den heutigen Tag. Wir lassen uns nieder im Halbkreis auf den Stufen in ihrem Rücken. Wir schützen ihre Sehergabe heute, an diesem Tag. Es ist eine grosse Stille um uns.
Plötzlich durchfährt uns die Kraft. Wir spüren sie in unseren Leibern. Menschen strömen herein und Pythia spricht und antwortet ihren Fragen. Wir sind erfasst von der Kraft und wie im Traum. Es gibt keine Zeit, keinen Raum. Es gibt nur das Feuer, den Rauch und die Menschen – alle am Scheideweg ihres Schicksals. Zuweilen gehen Blitze hernieder und Donner dröhnt durch den Raum. Zitternd reichen wir uns die Hände und verweilen bebend miteinander. Pythia sinkt ohnmächtig zu Boden; wir tragen sie in unsere Mitte und eine neue Pythia taumelt zum Schemel, gibt Antwort und spricht Orakel.
Schwer ist die Bürde der Seherkraft. Von Erschütterung zu Erschütterung taumelnd sind wir anheimgegeben der göttlichen Kraft aus der Tiefe. Manche geben auf. Sie ertragen die Bürde nicht, die Beben der Erschütterung, die Kräfte der Tiefe. Manchmal führen sie deshalb das Dasein eines Irren im Kreise der Familie. Denn das einfache Leben ist nicht ihr Los.
Um nicht irre zu werden, baden wir abends bei Sonnenuntergang die Füsse in der Quelle. Sie nimmt unseren Schmerz und reinigt unsere müden Leiber mit ihrer Kraft. Leichtfüssig erreichen wir dann unser Lager zu tiefem Schlaf.
Gott trifft die Wahl und gibt das Schicksal in unsere Hände. Ein Fluch? Ein Segen? Ein Fluch, ja, oft. Wer erträgt uns? Welcher Mann nimmt uns liebevoll in die Arme – droht er doch an unserem Feuer zu verbrennen. Einsam ist der Weg. Wahnsinn lauert hinter jeder Biegung. Götter, oh Götter, warum, warum? Lieblich am heimischen Herd im Schosse der Familie möchten wir weilen. Aber es gibt kein Verweilen. Schon ereilt uns der Ruf zu neuer Bedrängnis. Ein Fluch steter Wanderschaft ohne Heimat.
So kommst du, liebe Seele, hierher zur Quelle, müde des Weges und ohne Hoffnung. Und du schöpfst aus der Quelle und du fühlst ihre Kraft und du richtest dich auf und erkennst deinen Weg.
Ich bin die Quelle. Ich erlöse dich von der Wanderschaft. Deine Seherkraft wird erwachen, so du mein Wasser zu dir nimmst. Und die Kraft in deinem Inneren wird wachsen, sodass sie dich ganz erfüllt. Ich gebe dir Morgenfrische und bereite dir deine Ruhe am Abend. Mein Wirken ist still.
Ich gebe dir Kraft, du selbst zu sein in deinem Schicksal. Du selbst zu sein in deiner Sehergabe. Du selbst zu sein unter den Menschen, die dich nicht verstehen oder vernichten. Du selbst zu sein in deiner Kraft, die dich einsam werden liess. Du selbst zu sein in der Liebe zum Mann. Du selbst zu sein in der Liebe zur Frau. Du selbst zu sein in der Liebe der Götter. Du selbst zu sein in Feuer und Wasser, in Sturm und Vernichtung. Schöpfe aus mir die Kraft der Erneuerung, des Werdens, die Kraft, dem Grossen Ganzen zu dienen und den Menschen, die den Weg nicht kennen, Licht und Wegweiser zu sein. Priesterin bist du, vom Schicksal begnadet gezeichnet. Trage die Welt auf deinen Schultern und bringe sie mir – leicht wird die Bürde dir sein an diesem Ort meines Ursprungs. Ich bin die Quelle.
Du, die du mich erkannt hast, nimm meine Kraft, meinen Trost, meine Liebe für deinen Weg. Schwester der vielen Schwestern auf dem Weg nach Delphi.
Geschichte wird Gegenwart
Das ist die Botschaft der Kastalischen Quelle von Delphi. Ich habe ihr vier Stunden lang zugehört. Es ist rührend, dass sie sich erkannt fühlt und sich bei mir bedankt.
Ihr Wasser hat das Wissen um die Seherinnen bewahrt und lässt uns teilnehmen an ihrem Leben, ihrem Alltag, ihrem Schicksal, ihrem Dienen. Von Apollo erwählt, ist diesen Frauen ein einfaches Leben in Familie und Gesellschaft nicht möglich. Sie gelten als wahnsinnig. Sokrates allerdings hält diesen von den Göttern verliehenen Wahnsinn der Prophetinnen von Delphi für eine Gabe, die unendlich viel Gutes für Griechenland gebracht hat, während der blosse Verstand oft nur Kümmerliches vollbringen kann. Sie sind die Erwählten des Gottes Apollo, der für die Mantik zuständig ist: für die ekstatische, glückselige Erregung der Seele durch die Berührung des Göttlichen. Eine so exponierte Seele bedarf des besonderen Schutzes.
Es berührt, wie die Quelle den Seherinnen Kraft und Reinigung schenkt und das Leben in einer Gemeinschaft ihnen Heimat und Zuflucht bedeutet.
Das Orakel von Delphi war in der archaischen und klassischen Zeit Griechenlands, 800 – ca. 300 vor Christus, eine vielbesuchte Pilgerstätte für Menschen, die für eine schicksalsschwere Frage die Antwort der Götter suchten. Nach dem Tode Alexanders des Grossen, 323 vor Christus, verlor die Stätte an Bedeutung. Das Grossreich Alexanders, das sich bis nach Indien erstreckte, liess zahlreiche orientalische Religionen und Mysterienkulte Raum einnehmen; zumal Alexander seine Soldaten aus Vorderasien rekrutierte, die ihre heiligen Kulte ins Land brachten. So entstand ein Gemisch der Religionen und die griechische Götterwelt verlor die zentrale Bedeutung. Unter der Herrschaft der Römer nahm das Christentum Raum ein. Der heilige Bezirk Delphi wurde durch Kaiser Theodosius Ende des 4. Jahrhunderts nach Christus als heidnische Stätte gänzlich geschlossen. Erdbeben und Felsstürze taten das Ihre.
Die Botschaft der Quelle lässt die versunkene Zeit neu erwachen und für uns zur spürbaren Gegenwart werden. Wie relativ ist Zeit? Geschichte kann Gegenwart werden, wenn wir uns ihr zuwenden.
Anmerkungen der Redaktion zur resonanten Verreibung
Die resonante Verreibung wurde in RR 2/2022 In Resonanz mit den Dingen vorgestellt: Während dem Verreiben wird alles aufgeschrieben, was einem in den Sinn kommt, ohne die Einfälle zu zensieren. So können durch Verreiben in einem Mörser aus Substanzen Informationen gewonnen werden. Im Nachhinein besteht ein Protokoll, das über die zerriebene Substanz Aufschluss gibt. Mit dieser Technik kann der Radiästhet sein Angebot erweitern und die Vielfalt der Wahrnehmungsmöglichkeiten vergrössern.
Radiästhet als Orakelsprecher
Wer mutet, kann Fragestellungen annehmen und Antworten finden. Auch eine auf Papier formulierte Frage kann verrieben und so die Antworten gefunden werden. Für diese Methode wird die Frage klar formuliert zu Papier gebracht: Es ist bereits ein entscheidender Schritt, die Frage präzise und klar formuliert zu Papier zu bringen. Das Papier wird in Schnipsel zerkleinert in die vorbereitete Verreibungsschale gegeben und während vielleicht einer Stunde verrieben. Im Sein sein: Je weniger ich will, desto mehr geschieht. Was in den Sinn kommt, aufschreiben. Dabei entsteht die Antwort. Unklarheiten in der Antwort können in einem späteren Schritt radiästhetisch beleuchtet werden.
Die resonante Verreibung kann alle Fragen beantworten, die ethisch erlaubt sind, etwa: Wie kann ich die Seele pflegen? Was ist meine Berufung? Welche meiner Qualitäten möchte ich weiter kultivieren? Und so weiter.
Hinweis: In einer Gruppe kann es einfacher sein, die Geduld aufzubringen und lange genug zu verreiben, bis die Antwort vollständig da ist.
Resonante Verreibung: Eine Methode des Mutens
Die resonante Verreibung lässt uns die Geheimnisse des Geistes erfahren, der in Materie oder in einer Frage wohnt. Wir haben ein Instrument des Mutens zur Hand. Wir horchen nach Innen. Der immer redende und kritisierende Verstand wird durch das Schreiben beschäftigt und erhält die Rolle des Dieners. Wir können uns entspannt dem Informationsfluss überlassen, denn wir müssen uns nicht bemühen, zu behalten, was mitgeteilt wird. Wir werden ein Protokoll haben.
Für diese Arbeit braucht es nicht das aufwendige Verfahren der Verreibung über vier Stufen, wie es bei der Verreibung von Homöopathika notwendig ist. Wir nehmen einen flachen Porzellan-Mörser von 12 cm Durchmesser oder grösser und ein Pistill aus Porzellan. Wir geben zwei Esslöffel Milchzucker hinein und das Material, das wir verreiben wollen oben drauf. Es sollte relativ wenig sein. Es geht um die Gewinnung der Information aus der Materie, die in einem einzigen Blättchen genauso vorhanden ist, wie in einem Haufen von Blättern. Zum geschmeidigen Verreiben sollte eine weiche Grundlage von Milchzucker in der Schale sein und wenig Material. Ein Verhältnis vielleicht von zwei gehäuften Esslöffeln zu einem halben Teelöffel Material. Ein Schreibblock liegt bereit. Zum Schreiben wird das Reiben eine Weile unterbrochen und danach fortgeführt, bis ein neuer Einfall kommt. Es erfordert ein wenig Geduld und es macht nichts, wenn erst einmal keine Einfälle kommen. Je weniger ich will, desto mehr geschieht. Wir lassen dem zu verreibenden Material Zeit, sich zu äussern. Das kann mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen: eine Stunde, zwei Stunden. Unsere Ungeduld sitzt mit am Tisch. Es lohnt sich, auch längere Pausen zwischen den Botschaften zuzulassen. Sie bereiten oft den Durchbruch zum Wesentlichen vor. Versucht es einmal. Ihr werdet erstaunt sein.
Autorin
Renate Siefert
D-64385 Reichelsheim
renatesiefert@web.de
renate-siefert.de
Heilpraktikerin, Homöopathie, Radionik,
Autorin u. a. von Der Weg der Homöopathie. Warum sie wirkt –
wie sie heilt, Verlag Neue Erde und Tao des Friedens
Ganzen Artikel lesen für FR 4.-
Dieser Artikel ist kostenpflichtig.Sie können den Artikel hier kaufen oder ein Jahresabo bei uns bestellen.
Sie müssen angemeldet sein um einen Kommentar zu schreiben.
Anmelden